Harry Bosch 15 - Neun Drachen
über den Central District und den Hafen auf Kowloon hatte. Er ließ sich per Auto oder Standseilbahn erreichen und war bei Touristen das ganze Jahr über ein beliebter Ausflugspunkt, bei den Einheimischen vor allem in den Sommermonaten, wenn die Stadt an seinem Fuß die Feuchtigkeit in sich aufzusaugen schien wie ein Schwamm das Wasser. Bosch war mit seiner Tochter mehrere Male auf dem Peak gewesen, und meistens hatten sie im Restaurant des Observatoriums oder in der Einkaufspassage dahinter zu Mittag gegessen.
Bosch, seine Ex-Frau und ihr Security-Mann erreichten den Gipfel, bevor über der Stadt der Tag angebrochen war. Die Einkaufspassage und die Souvenirläden waren noch geschlossen, die Aussichtspunkte menschenleer. Sun stellte seinen Mercedes auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums ab, und sie nahmen den Weg, der am Kamm des Bergs entlanglief. Bosch hatte seinen Rucksack auf dem Rücken. Die Luft troff vor Feuchtigkeit. Der Weg war nass, und Bosch wusste, es hatte in der Nacht geregnet. Das Hemd klebte bereits an seinem Rücken.
»Was machen wir hier eigentlich?«, fragte Eleanor.
Die Frage war das Erste, was sie seit langem gesagt hatte. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt hatte Bosch das Video aufgerufen und ihr sein Handy gereicht. Sie sah es sich an, und Bosch hörte, wie ihr der Atem stockte. Dann fragte sie, ob sie es ein zweites Mal ansehen könne. Schließlich gab sie ihm das Handy wortlos zurück. Das drückende Schweigen, das sich darauf über sie gelegt hatte, hatte angehalten, bis sie den Weg entlangzugehen begannen.
Bosch schwang den Rucksack auf seine Brust und öffnete ihn. Er reichte Eleanor den Ausdruck des Standbilds. Dann holte er eine Taschenlampe aus dem Rucksack und reichte sie ihr ebenfalls.
»Das ist ein Standbild aus dem Video. Wenn Maddie nach dem Kerl tritt und die Kamera sich bewegt, schwenkt sie kurz auf dieses Fenster.«
Eleanor knipste die Taschenlampe an und betrachtete den Ausdruck im Gehen. Sun war mehrere Schritte hinter ihnen. Bosch erklärte ihr, was er vorhatte.
»Du musst dabei immer berücksichtigen, dass in dem Fenster alles spiegelverkehrt zu sehen ist. Siehst du die Torpfosten auf der Bank of China? Ich habe ein Vergrößerungsglas dabei, wenn du möchtest.«
»Ja, hier. Ich sehe sie.«
»Und zwischen den Pfosten ist die Pagode hier unten zu sehen. Sie heißt, glaube ich, Lion Pagoda oder Lion Lookout. Ich war mit Maddie öfter hier oben.«
»Ich auch. Das ist der Löwenpavillon. Und er ist auf dem Foto tatsächlich zu sehen?«
»Ja, aber du brauchst das Vergrößerungsglas. Warte, bis wir dort sind.«
Der Weg beschrieb eine Kurve, und vor ihnen tauchte der pagodenartige Bau auf, von dem man einen der besten Ausblicke auf die Stadt hatte. Bei den früheren Gelegenheiten, als Bosch hier gewesen war, hatte es auf dem Aussichtspunkt von Touristen mit Kameras gewimmelt. Im grauen Licht der Morgendämmerung lag er jetzt vollkommen verlassen da. Bosch ging durch den Torbogen des Eingangs zum Aussichtspavillon hinaus. Unter ihm lag die riesige Stadt. In der schwindenden Dunkelheit funkelten Millionen Lichter, und eines davon, wusste Bosch, gehörte zu dem Raum, in dem seine Tochter war. Er würde ihn finden.
Eleanor stand neben ihm und hielt den Ausdruck in den Lichtkegel der Taschenlampe. Sun nahm hinter ihnen die Bodyguard-Position ein.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Glaubst du, du kannst das Ganze praktisch umkehren und von hier die Stelle anpeilen, wo sie ist.«
»Genau.«
»Harry …«
»Es gibt noch andere Orientierungspunkte. Ich will die Suche nur eingrenzen. Kowloon ist riesig.«
Bosch holte sein Fernglas aus dem Rucksack. Es hatte eine starke Vergrößerung, und er benutzte es für Observierungen. Er hob es an die Augen.
»Welche anderen Orientierungspunkte?«
Es war noch zu dunkel. Bosch ließ das Fernglas wieder sinken. Er musste warten. Vielleicht hätte er doch erst nach Wan Chai fahren sollen, um sich eine Pistole zu besorgen.
»Welche anderen Orientierungspunkte, Harry?«
Bosch stellte sich ganz dicht neben sie, um mit ihr auf das Foto blicken zu können, und zeigte auf die Orientierungspunkte, auf die ihn Barbara Starkey aufmerksam gemacht hatte, vor allem auf die Buchstaben
O
und
N
des spiegelverkehrten Schriftzugs. Außerdem erzählte er ihr von der U-Bahn, die auf dem Video zu hören war, und von dem Hubschrauber, der kurz durch den Bildausschnitt geflogen war.
»Das alles zusammengenommen, müssten wir es eigentlich
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