Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
gekommen, in dem sich seine Arbeit entweder auszahlen oder als umsonst erweisen würde.
»Sie hat mir erzählt, dass sie im Garten Verstecken gespielt haben, und dann ist so ein Typ aufgetaucht und hat ihre Schwester mitgenommen, und dass sie alles genau mitbekommen hat.«
Boschs Blick wanderte einmal durch den ganzen Saal. Zuerst schaute er zu den Geschworenen, und es schien, als hätten sogar sie erwartet, dass Roman etwas anderes sagen würde. Dann zum Tisch der Anklage. Dort sah er, wie McPherson Hallers Oberarm drückte. Und zum Schluss zu Royce, der jetzt derjenige war, der nicht mehr weiterwusste. Er stand am Pult und blickte auf seine Notizen hinab und stemmte wie ein frustrierter Lehrer, der einem Schüler nicht die richtige Antwort entlocken kann, die Faust in die Hüfte.
»Das ist die Geschichte, die Sarah Gleason in der Entzugsklinik bei der Gruppentherapie erzählt hat, richtig?«, fragte er schließlich.
»Ja, genau.«
»Aber war es denn nicht so, dass sie Ihnen, wenn Sie beide allein waren, eine andere Version erzählt hat – die ›wahre Geschichte‹, wie sie es nannte?«
»Ähm, nein. Sie hat eigentlich immer die gleiche Geschichte erzählt.«
Bosch sah, wie McPherson Hallers Arm erneut drückte. Das war der Knackpunkt des Prozesses.
Royce war wie ein Taucher, der vom Boot zurückgelassen worden war. Er hielt sich zwar über Wasser, aber er war ganz allein auf dem Meer, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er unterginge. Er versuchte, das Beste aus der Situation zu machen.
»Mr. Roman, Sie haben doch am 2. März dieses Jahres in meiner Kanzlei angerufen und der Verteidigung Ihre Dienste als Zeuge angeboten, ist das richtig?«
»An das genaue Datum kann ich mich leider nicht mehr erinnern, aber ich habe dort angerufen, ja.«
»Und haben Sie damals mit meiner Ermittlerin Karen Revelle gesprochen?«
»Ich habe mit einer Frau gesprochen, aber an ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Und haben Sie ihr nicht eine Geschichte erzählt, die deutlich von der abweicht, die Sie uns gerade erzählt haben?«
»Damals stand ich ja auch nicht unter Eid und nichts.«
»Das ist natürlich richtig, Sir, aber Sie haben Karen Revelle eine andere Geschichte erzählt, richtig?«
»Möglicherweise. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Haben Sie Karen Revelle damals nicht erzählt, Ms. Gleason hätte Ihnen anvertraut, dass ihr Stiefvater ihre Schwester umgebracht hätte?«
Haller stand auf und legte Einspruch ein, mit der Begründung, Royce stelle dem Zeugen Suggestivfragen. Des Weiteren führte er an, für die Frage bestehe kein Anlass und der Verteidiger versuche, dem Zeugen eine Aussage zu entlocken, die dieser nicht zu machen bereit sei. Die Richterin gab dem Einspruch statt.
»Euer Ehren«, erklärte Royce daraufhin, »die Verteidigung möchte um eine kurze Unterbrechung bitten, um sich mit ihrem Zeugen zu besprechen.«
Bevor Haller Einspruch einlegen konnte, hatte die Richterin den Antrag bereits abgelehnt.
»Laut Aussagen des Zeugen hatten Sie seit März Zeit, um sich auf diesen Moment vorzubereiten. Sie können sich gern mit ihm besprechen, wenn wir in fünfunddreißig Minuten Mittagspause machen, Mr. Royce. Stellen Sie Ihre nächste Frage.«
»Danke, Euer Ehren.«
Royce blickte auf seinen Notizblock hinab. Bosch konnte von seinem Platz sehen, dass er auf ein leeres Blatt starrte.
»Mr. Royce?«, drängte die Richterin.
»Ja, Euer Ehren, ich prüfe gerade noch ein Datum. Mr. Roman, warum haben Sie am 2. März in meiner Kanzlei angerufen?«
»Na ja, ich habe im Fernsehen einen Bericht über den Fall gesehen, und darin waren vor allem Sie zu sehen, wie Sie über die ganze Sache gesprochen haben. Und weil ich ja Sarah kannte, wusste ich auch was darüber. Deshalb habe ich in Ihrer Kanzlei angerufen, um zu sehen, ob ich Ihnen vielleicht weiterhelfen könnte.«
»Und dann sind Sie in meine Kanzlei gekommen, richtig?«
»Ja, das ist richtig. Sie haben mich von dieser Frau abholen lassen.«
»Und als Sie in meine Kanzlei gekommen sind, haben Sie mir eine andere Geschichte erzählt als die, die Sie gerade den Geschworenen erzählt haben, ist das richtig?«
»Wie gesagt, ich weiß nicht mehr genau, was ich damals alles erzählt habe. Ich bin drogensüchtig, Sir. Ich sage alles Mögliche, an das ich mich hinterher nicht mehr erinnern kann und das ich auch gar nicht so meine. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass die Frau, die mich abholen gekommen ist, gesagt
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