Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
hier und eins bei Ihrem Haus. Alle anderen ziehe ich nach Venice ab.«
»Und der Santa Monica Pier?«
»Wird bereits überwacht. Am Strand sind zwei Teams postiert. Da kommt niemand rein oder raus.«
Wright ging auf die SIS -Frequenz und begann, seine Männer über Funk neu zu verteilen. Bosch lief währenddessen im Zimmer auf und ab und versuchte, sich in Jessup hineinzuversetzen. Um Wright nicht zu stören, trat er nach einer Weile wieder auf den Flur hinaus und rief Larry Gandle an, seinen Chef bei der RHD .
»Hier Bosch. Wollte mich nur mal wieder melden.«
»Sind Sie noch im Hotel?«
»Ja, aber wir sind gerade dabei, an den Strand zu fahren. Wahrscheinlich haben Sie schon gehört, dass sie das Auto gefunden haben.«
»Ja, ich war gerade dort.«
Das überraschte Bosch. Angesichts der vier Opfer in Royce’ Kanzlei hatte er angenommen, Gandle wäre noch am Tatort.
»In seinem Wagen war nichts«, sagte Gandle. »Jessup hat die Waffe noch.«
»Wo sind Sie jetzt?«, fragte Bosch.
»Auf dem Speedway. Wir waren gerade in dem Zimmer, in dem Jessup gewohnt hat. Hat etwas gedauert, einen Durchsuchungsbeschluss zu bekommen.«
»Haben Sie was gefunden?«
»Bisher nicht. Diese Drecksau, man sieht diesen Typen im Gericht im Anzug rumsitzen und denkt … was weiß ich, was man denkt, Tatsache ist, er hat gehaust wie ein Tier.«
»Wie meinen Sie das?«
»Überall liegen leere Dosen rum, zum Teil noch halb voll mit vergammeltem Essen. Schimmlige Lebensmittel auf der Arbeitsplatte, überall Müll. Die Fenster hat er mit Decken verhängt, um alles abzudunkeln. Wie in einer Höhle. Oder in einer Gefängniszelle. Sogar die Wände hat er vollgekritzelt.«
Plötzlich wurde es ihm klar. Jetzt wusste Bosch, für wen Jessup das Verlies unter dem Pier eingerichtet hatte.
»Was war das für Essen?«, fragte er.
»Wie?«
»Die Lebensmittelkonserven. Was war das für Essen?«
»Keine Ahnung, irgendwelche Früchte und Pfirsiche – lauter Zeug jedenfalls, was man im Laden auch frisch bekommt. Aber er hatte alles in Dosen. Wie im Knast.«
»Danke, Lieutenant.«
Bosch drückte die Trenntaste und kehrte rasch in das Büro zurück. Wright war mit seinen Funkdurchsagen fertig.
»Waren Ihre Leute auch unter dem Pier? Haben sie in dem Lagerraum nachgesehen, oder behalten sie nur die Umgebung im Auge?«
»Es ist eine äußere Observierung.«
»Sie haben also nicht nachgesehen?«
»Sie haben die Umgebung abgecheckt. Es gab keinerlei Anzeichen, dass jemand unter der Wand durchgekrochen ist. Deshalb haben sie sich zurückgezogen und ihre Posten eingenommen.«
»Jessup ist unter dem Pier. Sie haben ihn übersehen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es einfach. Los, kommen Sie.«
43
Donnerstag, 8. April, 18:35 Uhr
I ch stand am Panoramafenster meines Wohnzimmers und blickte auf die Stadt und die dahinter untergehende Sonne hinaus. Irgendwo da draußen war Jessup. Wie ein tollwütiges Tier wurde er gejagt, in die Enge getrieben und, da hatte ich keinen Zweifel, zur Strecke gebracht. Es war der unvermeidliche Ausgang seines Spiels.
Rein rechtlich gesehen, trug Jessup die alleinige Verantwortung, aber ich konnte nicht umhin, mir über meine eigene Schuld an dieser schrecklichen Geschichte Gedanken zu machen. Nicht in irgendeinem juristischen Sinn, aber in einem persönlichen, inneren. Ich musste mir die Frage stellen, ob ich das alles, ob nun bewusst oder nicht, an dem Tag ins Rollen gebracht hatte, als ich mich bei dem Mittagessen mit Gabriel Williams bereit erklärt hatte, sowohl im Gerichtssaal als auch in mir selbst eine Grenze zu überschreiten. Indem ich in Jessups Haftbefreiung eingewilligt hatte, hatte ich möglicherweise sowohl sein Schicksal als auch das von Royce und den anderen Opfern besiegelt. Ich war Strafverteidiger, kein Staatsanwalt. Ich trat für die Underdogs ein, nicht für den Staat. Vielleicht hatte ich diese taktischen Manöver nur unternommen, damit es nie zu einem Schuldspruch käme und ich mein Gewissen nicht damit belasten müsste.
Das waren Überlegungen eines Mannes, der Schuld auf sich geladen hatte. Aber sie waren nicht von langer Dauer. Mein Telefon summte, und ich zog es aus der Tasche, ohne den Blick von der Aussicht abzuwenden.
»Haller.«
»Ich bin’s. Wo bleibst du so lange?«
»Ich bin hier noch nicht ganz fertig, Maggie. Bei euch alles okay?«
»Bei uns schon, ja. Aber bei Jessup wahrscheinlich nicht. Hast du zufällig den Fernseher an?«
»Nein, was tut sich
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