Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
fort. »Er rannte nach draußen, wo Sarah, die Ältere, aufgeregt schrie, dass Melissa von einem Mann mitgenommen worden wäre. Der Stiefvater lief auf die Straße und suchte nach ihr, konnte sie aber nirgendwo finden. Sie war einfach weg.«
An dieser Stelle hielt meine Ex-Frau kurz inne, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Jeder der im Raum Anwesenden hatte eine kleine Tochter und konnte nachempfinden, welch massiven Einschnitt dieser Moment im Leben der Landys bedeutet hatte.
»Die Polizei wurde verständigt und reagierte umgehend«, fuhr Maggie fort. »Das war schließlich in Hancock Park. Schon nach wenigen Minuten gingen die ersten Suchmeldungen raus, und es wurden sofort mehrere Detectives beauftragt, nach dem Mädchen zu suchen.«
»Es ist also am helllichten Tag passiert?«, warf Bosch ein.
Maggie nickte.
»Gegen zehn Uhr vierzig vormittags. Die Landys wollten zum Elf-Uhr-Gottesdienst fahren.«
»Und sonst hat niemand etwas davon mitbekommen?«
»Es ist, wie gesagt, in Hancock Park passiert. Hohe Hecken, hohe Mauern, jeder hat dort seine kleine Welt für sich. Die Leute, die dort wohnen, wissen, wie man sich von der Außenwelt abschottet. Niemand hat etwas gesehen. Bis Sarah zu schreien anfing, hat auch niemand etwas gehört, aber da war es bereits zu spät.«
»Hatten die Landys eine Mauer oder eine Hecke?«
»An der nördlichen und südlichen Grundstücksgrenze zwei Meter hohe Hecken, aber zur Straße hin nichts. Damals nahm man an, dass Jessup mit seinem Abschleppwagen vorbeigefahren war und das Mädchen allein im Vorgarten gesehen hatte. Und dann hatte er einem spontanen Impuls nachgegeben und es in seine Gewalt gebracht.«
Wir saßen eine Weile in bedrücktem Schweigen da und hingen unseren Gedanken darüber nach, wie das Schicksal manchmal spielen konnte. Ein Abschleppwagen fährt an einem Haus vorbei. Der Fahrer sieht ein Mädchen allein und unbeaufsichtigt im Garten. In einem einzigen kurzen Augenblick rechnet er sich aus, dass er sie sich schnappen und ungestraft davonkommen kann.
»Und?«, sagte Bosch schließlich. »Wie haben sie ihn gefasst?«
»Die zuständigen Detectives waren keine Stunde später am Tatort. Die Ermittlungen leitete Doral Kloster, sein Partner war Chad Steiner. Ich habe es bereits nachgeprüft. Steiner lebt nicht mehr, und Kloster ist pensioniert und hat Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Er kann uns nicht mehr helfen.«
Bosch gab ein frustriertes Brummen von sich.
»Jedenfalls, sie rückten sofort an und verloren auch sonst keine Zeit. Sie redeten mit Sarah, und sie erzählte ihnen, der Entführer sei wie ein Müllmann angezogen gewesen. Weitere Fragen erbrachten, dass dies bedeutete, dass er einen schmutzigen Overall angehabt hatte, wie sie auch die Männer von der Müllabfuhr trugen. Das Mädchen sagte, sie hätte das Müllauto gehört, aber nicht sehen können, weil sie mit ihrer Schwester Verstecken gespielt und hinter einem Busch gekauert hätte. Das Problem war nur, es war Sonntag. Und sonntags kommt keine Müllabfuhr. Doch als der Stiefvater davon hört, schaltet er ziemlich schnell und erzählt den Detectives von den Abschleppwagen, die sonntagvormittags im Viertel unterwegs sind. Das wird ihr bester Anhaltspunkt. Die Detectives besorgen sich eine Liste der in Frage kommenden Subunternehmen und suchen sie umgehend auf.
Es gibt drei Abschleppfirmen, die für den Wilshire-Korridor zuständig sind. Eine davon ist Aardvark, wo man ihnen sagt, dass sie drei Abschleppwagen im Einsatz haben. Die Fahrer werden einbestellt, und einer von ihnen ist Jessup. Die anderen beiden heißen Derek Wilbern und William Clinton – wirklich. Sie werden getrennt voneinander vernommen, aber es kommt nichts Verdächtiges dabei heraus. Sie lassen die drei durch den Computer laufen, und gegen Jessup und Clinton liegt nichts vor, nur Wilbern ist zwei Jahre zuvor wegen versuchter Vergewaltigung festgenommen worden, aber nicht verurteilt. Das würde an sich ausreichen, um ihn zu einer Gegenüberstellung nach Downtown zu bringen, aber das Mädchen ist noch nicht wieder aufgetaucht, und deshalb ist keine Zeit für derlei Förmlichkeiten, keine Zeit, um eine Gegenüberstellung zu arrangieren.«
»Wahrscheinlich haben sie ihn zu den Landys mitgenommen«, sagte Bosch. »Etwas anderes blieb ihnen gar nicht übrig. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.«
»So ist es. Kloster war allerdings klar, dass er sich damit auf dünnes Eis begab. Selbst wenn das Mädchen Wilbern als den Entführer
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