Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Prozess selbst dauerte sieben Tage, und dann berieten die Geschworenen drei Tage lang über ihren Schuldspruch. Darauf folgten zwei weitere Wochen, in denen über ein Todesurteil entschieden wurde. Also lediglich sieben Tage für Zeugenaussagen und Plädoyers – was mir für einen Mordprozess sehr wenig Zeit erscheint. Der Fall war mehr oder weniger klar. Und die Verteidigung … nun ja, eine Verteidigung gab es praktisch nicht.«
Sie sah mich an, als wäre ich schuld an der schlechten Verteidigung des Angeklagten, obwohl ich 1986 noch nicht einmal mein Jurastudium beendet hatte.
»Wer war sein Anwalt?«, fragte ich.
»Charles Barnard. Ich habe bereits bei der Anwaltskammer angefragt. Er wird die Wiederaufnahme nicht übernehmen. Er ist ’94 verstorben. Auch der damalige Anklagevertreter, Gary Lintz, ist lange tot.«
»Ich kann mich an keinen von den beiden erinnern. Wer war der Richter?«
»Walter Sackville. Er ist zwar schon lange im Ruhestand, aber an ihn erinnere ich mich noch. Ein richtig harter Brocken.«
»Ich hatte ihn bei mehreren Fällen«, warf Bosch ein. »Er ließ sich von niemandem dumm kommen, weder von der Anklage noch von der Verteidigung.«
»Gut. Und weiter?«, sagte ich.
»Also, die Anklage hat den Sachverhalt damals folgendermaßen dargestellt. Die Familie Landy – das waren unser Opfer, Melissa, damals zwölf, ihre dreizehnjährige Schwester Sarah, ihre Mutter Regina und ihr Stiefvater Kensington –, die Landys wohnten in Hancock Park im Windsor Boulevard. Das Haus befand sich zirka einen Block nördlich vom Wilshire Boulevard, nicht weit von der Trinity United Church of God, zu deren zwei Sonntagsgottesdiensten damals jeden Morgen an die sechstausend Gläubige kamen. Die Leute parkten ihre Autos in ganz Hancock Park, um in die Kirche zu gehen. Irgendwann hatten es die Anwohner satt, dass ihr Viertel jeden Sonntagvormittag von Gottesdienstbesuchern überschwemmt wurde, und legten bei der Stadtverwaltung Beschwerde ein. Daraufhin wurde das Viertel an den Wochenenden zur Parkzone erklärt. Um also dort parken zu dürfen, musste man eine Plakette haben. Das hatte zur Folge, dass jeden Sonntagvormittag mehrere Abschleppwagen im Auftrag der Stadt das Viertel und somit auch den Windsor Boulevard durchkämmten wie hungrige Haie. Jedes Auto, das keine Parkerlaubnis hatte, war leichte Beute für sie. Es wurde abgeschleppt. Womit wir endlich zu Jason Jessup kämen, unserem Verdächtigen.«
»Er fuhr einen Abschleppwagen«, sagte ich.
»Richtig. Er arbeitete bei Aardvark Towing, einem städtischen Subunternehmen. Klasse Name übrigens. Sie standen im Telefonbuch ganz vorn, und das war damals eine Zeit, in der die Leute noch Telefonbücher benutzten.«
Ich warf einen kurzen Blick in Richtung Bosch und konnte an seiner Reaktion sehen, dass er zu den Leuten gehörte, die immer noch das Telefonbuch nutzten und nicht das Internet. Maggie bekam es nicht mit und fuhr fort.
»Jessup war am fraglichen Morgen in Hancock Park auf Tour. Die Landys bauten damals gerade einen Swimmingpool in ihrem Garten. Kensington Landy war Musiker und schrieb Filmmusikarrangements, mit denen er sehr gut verdiente. Sie legten sich also einen Pool zu, und in ihrem Garten war ein großes Loch mit riesigen Erdhaufen drum herum. Deshalb wollten die Eltern nicht, dass die Mädchen dort spielten. Zum einen fanden sie es gefährlich, zum anderen hatten die Mädchen für den Kirchgang ihre Sonntagskleider an. Das Haus hatte einen großen Vorgarten. Der Stiefvater sagte den Mädchen, sie sollten noch so lange im Freien spielen, bis alle fertig wären, um gemeinsam in die Kirche zu gehen. Die Ältere, Sarah, sollte auf Melissa aufpassen.«
»Sind sie in die Trinity United gegangen?«, fragte ich.
»Nein, in die Sacred Heart in Beverly Hills. Wie auch immer, die Mädchen waren höchstens fünfzehn Minuten im Garten. Die Mutter war noch oben und machte sich fertig, und der Stiefvater, der ebenfalls auf die Mädchen hätte aufpassen sollen, sah im Wohnzimmer fern. Eine Zusammenfassung der Sportereignisse auf ESPN oder was sie damals hatten. Jedenfalls vergaß er darüber die Mädchen.«
Bosch schüttelte den Kopf, und ich wusste genau, was in ihm vorging. Er verurteilte damit keineswegs den Vater; er wusste nur, wie schnell so etwas gehen konnte, und kannte die Angst aller Eltern vor einer solchen kleinen Unachtsamkeit, die derart verheerende Folgen haben konnte.
»Irgendwann hörte er aus dem Vorgarten Schreie«, fuhr Maggie
Weitere Kostenlose Bücher