Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
jedoch sicher nicht damit, dass der Richter dem stattgäbe. Er erwartete, dass Jessup, wenn überhaupt, allenfalls gegen Hinterlegung einer hohen Kaution freikäme. Mordverdächtige ließ man nicht auf Treu und Glauben raus. In den seltenen Fällen, in denen in einem Mordfall überhaupt eine Haftbefreiung gewährt wurde, hatte diese in der Regel einen gesalzenen Preis. Ob Jessup diese Summe nun mit Hilfe seiner Unterstützer oder dank der Buch- und Filmrechte zu stellen gedachte, über die er angeblich bereits in Verhandlungen stand, spielte bei der Klärung dieser Frage keine Rolle.
Royce schloss seinen Antrag mit dem Argument, eine Fluchtgefahr bestehe in Jessups Fall aus eben dem Grund nicht, den ich kurz zuvor Maggie genannt hatte. Sein Mandant habe kein Interesse daran, unterzutauchen. Sein einziges Interesse sei, nach vierundzwanzig Jahren unrechtmäßiger Inhaftierung um die Wiederherstellung seines guten Rufs und Namens zu kämpfen.
»Mr. Jessup hat im Moment nichts anderes im Sinn, als hierzubleiben und ein für alle Mal zu beweisen, dass er unschuldig ist und einen unvorstellbaren Preis für die Versäumnisse und Fehler der Bezirksstaatsanwaltschaft zahlen musste.«
Während Royce sprach, beobachtete ich Jessup im Glaskäfig. Er wusste, dass alle Kameras auf ihn gerichtet waren, und spielte den zu Recht Entrüsteten. Trotz aller Anstrengungen gelang es ihm jedoch nicht, die Wut und den Hass in seinen Augen zu verbergen. Vierundzwanzig Jahre Gefängnis hatten sie dort unauslöschlich eingekerbt.
Firestone machte sich eine Notiz, dann erteilte er mir das Wort. Ich stand auf und wartete, bis der Richter zu mir aufblickte.
»Bitte, Mr. Haller«, forderte er mich auf.
»Vorausgesetzt, Mr. Jessup kann einen festen Wohnsitz vorweisen, hat das Volk diesmal nichts gegen eine Haftbefreiung einzuwenden.«
Der Richter sah mich ziemlich lange an, während er zu verarbeiten versuchte, dass ich genau das Gegenteil von dem geantwortet hatte, was er erwartet hatte. Das verhaltene Gemurmel im Saal wurde sogar noch leiser, als auch dem letzten der anwesenden Anwälte klarwurde, was ich gerade gesagt hatte.
»Habe ich da eben richtig gehört, Mr. Haller?«, sagte Firestone. »Sie haben keinerlei Einwände gegen eine Haftbefreiung in einem Mordfall?«
»Ganz recht, Euer Ehren. Wir rechnen fest damit, dass Mr. Jessup zum Prozess erscheinen wird. Wenn er es nicht tut, springt finanziell nichts für ihn dabei heraus.«
»Euer Ehren!«, schrie Royce geradezu auf. »Ich erhebe Einspruch gegen derart vorurteilsbehaftete Unterstellungen seitens Mr. Hallers, die nur auf die anwesenden Medien abzielen. Meinem Mandanten geht es gegenwärtig um nichts anderes, als …«
»Das ist mir durchaus klar, Mr. Royce«, unterbrach ihn der Richter. »Aber ich glaube, dass auch Sie sich zur Genüge für die Kameras in Szene gesetzt haben. Lassen wir das also lieber. Nachdem die Anklage keine Einwände hat, entlasse ich Mr. Jessup hiermit auf Treu und Glauben, sobald er dem Protokollführer einen Nachweis über einen festen Wohnsitz vorlegt. Mr. Jessup darf jedoch ohne ausdrückliche Genehmigung des Richters, dem sein Fall zugeteilt wird, Los Angeles County nicht verlassen.«
Danach übertrug Richter Firestone den Fall der für die Zuteilung der Verfahren zuständigen Gerichtsstelle. Damit waren wir endgültig außerhalb seiner Zuständigkeit. Er konnte das Fließband wieder anwerfen und hoffen, es bis zum Abendessen nach Hause zu schaffen. Ich packte die Akten zusammen, die Maggie hatte liegen lassen, und verließ den Tisch der Anklage. Royce war wieder an seinem Platz an der Schranke und räumte seine Unterlagen in einen ledernen Aktenkoffer. Seine junge Assistentin half ihm.
»Und, wie war’s, Mick?«, fragte er mich.
»Was? Als Ankläger aufzutreten?«
»Ja, die Seite zu wechseln.«
»Nicht so viel anders, um ehrlich zu sein. Außerdem waren das heute nur Formalitäten.«
»Sie werden Ihnen bestimmt ordentlich die Hölle heißmachen – meinen Mandanten einfach so hier rausmarschieren zu lassen.«
»Sollen sie doch, wenn sie keinen Spaß verstehen. Sorgen Sie mal lieber dafür, dass er keine Dummheiten macht, Clive. Sonst bekomme ich nämlich wirklich Ärger. Und er natürlich auch.«
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Wir kümmern uns schon um ihn. Um ihn brauchen Sie sich wirklich am allerwenigsten Gedanken zu machen.«
»Wieso das, Clive?«
»Sie haben so gut wie keine Beweise, Sie können Ihre Hauptzeugin nicht
Weitere Kostenlose Bücher