Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
und sich ihn schnappen, sobald er auf dumme Gedanken kommt.«
Darauf trat erneut längeres Schweigen ein, doch diesmal konnte ich im Hintergrund gedämpfte Stimmen hören, und ich vermutete, dass Williams mit seinem Berater, Joe Ridell, redete. Als seine Stimme wieder aus dem Hörer kam, klang sie streng, aber gefasst.
»Okay, dann machen Sie jetzt Folgendes. Wenn Sie in Zukunft wieder so etwas planen, kommen Sie erst zu mir. Ist das klar?«
»Das können Sie sich abschminken. Sie wollten einen unabhängigen Ankläger, und einen solchen haben Sie bekommen. Und wenn Ihnen das nicht passt …«
Darauf kam erst einmal nichts, und dann legte Williams ohne ein weiteres Wort auf. Ich klappte das Handy zu und beobachtete eine Weile, wie Clive Royce aus dem Gerichtssaal kam und in die Traube aus Reportern und Kameras watete. Ganz der mit allen Wassern gewaschene alte Hase, wartete er kurz, bis alle Stellung bezogen und ihre Kameras scharf gestellt hatten. Dann setzte er zu der ersten von noch vielen weiteren scheinbar improvisierten, aber sorgfältig vorbereiteten Presseerklärungen an.
»Ich glaube, die Staatsanwaltschaft bekommt es mit der Angst zu tun«, begann er.
Ich hatte gewusst, dass er das sagen würde. Den Rest konnte ich mir sparen. Ich ging weg.
8
Mittwoch, 17. Februar, 9:48 Uhr
M anche Leute wollen nicht gefunden werden. Sie treffen Vorkehrungen. Sie wedeln mit einem Zweig hinter sich her, um ihre Spur zu verwischen. Andere laufen einfach weg und kümmern sich nicht um das, was sie hinter sich zurücklassen. Für sie zählt nur, dass die Vergangenheit hinter ihnen liegt und sie sich immer weiter von ihr entfernen.
Nach Durchsicht der Berichte des Ermittlers der Staatsanwaltschaft brauchte Bosch nur zwei Stunden, um den aktuellen Namen und die Adresse der vermissten Zeugin, Melissa Landys älterer Schwester Sarah, herauszufinden. Sie hatte mit keinem Zweig ihre Spuren verwischt. Sie hatte auf die Dinge zurückgegriffen, die gerade zur Hand waren, und war einfach weitergezogen. Der Ermittler der Staatsanwaltschaft, der die Spur in San Francisco verloren hatte, hatte auf der Suche nach Hinweisen nicht nach hinten geblickt. Das war sein Fehler. Er hatte nach vorn geblickt und eine leere Spur vorgefunden.
Bosch hatte wie sein Vorgänger begonnen und den Namen Sarah Landy und das Geburtsdatum 14. April 1972 in den Computer eingegeben. Die verschiedenen Suchmaschinen der Polizei hatten zahlreiche Kollisionen mit Behörden und Gesellschaft gefunden.
1989 und 1990 kam es zu den ersten Festnahmen wegen Drogendelikten – vom Jugendamt diskret und verständnisvoll behandelt. Ende 1991 war jedoch Sarah Landy bei ähnlichen Vergehen schon außerhalb des Einflusses und Verständnisses des Jugendamts. 1992 kam es zu zwei weiteren Festnahmen. Diese resultierten in einer Bewährungsstrafe in Verbindung mit einer Drogentherapie. Danach hinterließ sie ein paar Jahre keine digitalen Fußabdrücke mehr. Eine andere Suchmaschine lieferte Bosch für diesen Zeitraum mehrere Adressen in Los Angeles, alle in Vierteln, in denen die Mieten seines Wissens wahrscheinlich niedrig und Drogen leicht erhältlich waren. Sarahs bevorzugte verbotene Substanz war Meth, eine Droge, die Hirnzellen zerstört wie nichts.
Hier endete die Spur von Sarah Landy, dem Mädchen, das, im Gebüsch versteckt, beobachtet hatte, wie ihre kleine Schwester von einem Mörder entführt wurde.
Bosch öffnete den ersten Ordner, den er aus der Mordschachtel genommen hatte, und sah auf das Zeugeninformationsblatt für Sarah. Er fand ihre Sozialversicherungsnummer und gab sie zusammen mit dem Geburtsdatum in die Suchmaschine ein. So kam er an zwei neue Namen: Sarah Edwards, Anfang 1991, und Sarah Witten, 1997. Wenn Frauen lediglich den Nachnamen änderten, war das in der Regel ein Indiz für eine Heirat, und der Ermittler der Staatsanwaltschaft hatte vermerkt, Unterlagen zweier Eheschließungen gefunden zu haben.
Unter dem Namen Sarah Edwards gingen die Festnahmen weiter, wobei jetzt auch zwei wegen Eigentumsdelikten und eine wegen Prostitution dazukamen. Allerdings lagen die Festnahmen zeitlich so weit auseinander, und vielleicht waren auch ihre Vorgeschichten so bedrückend, dass ihr erneut eine Haftstrafe erspart blieb.
Bosch klickte sich durch die Karteifotos dieser Festnahmen. Auf allen war eine junge Frau mit wechselnden Frisuren und Haarfarben zu sehen, aber mit dem immer gleichen Ausdruck von Verletztheit und Trotz in den Augen. Auf einem Foto hatte
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