Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Frau, wahrscheinlich seine Assistentin. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und blickten auf einen aufgeschlagenen Ordner hinab, der einen dicken Packen Dokumente enthielt. Ich näherte mich ihnen mit ausgestreckter Hand.
»Clive ›The Barrister‹ Royce, wie geht’s, wie steht’s, Herr Kollege?«
Er blickte auf, und sofort fältelte ein Lächeln sein gebräuntes Gesicht. Ganz der perfekte Gentleman, erhob er sich, bevor er mir die Hand schüttelte.
»Mickey, wie geht’s? Tut mir leid, aber wie es aussieht, müssen wir diesmal gegeneinander antreten.«
Ich wusste, es tat ihm leid, aber so leid nun auch wieder nicht. Royce hatte Karriere gemacht, indem er sich immer aussichtsreiche Fälle ausgesucht hatte. Er hätte einen derart medienwirksamen Fall nie pro bono übernommen, wäre er nicht überzeugt, dass er ihm kostenlose Werbung und einen weiteren Sieg eintrüge. Er war fest entschlossen, den Prozess zu gewinnen, und hinter dem Lächeln blitzten zwei Reihen spitzer Zähne.
»Mir auch. Und ich bin sicher, Sie werden es mich bitter bereuen lassen, die Seiten gewechselt zu haben.«
»Ich würde sagen, wir kommen einfach beide unserer Pflicht nach. Sie helfen dem District Attorney aus, und ich nehme mich auf eigenes Risiko Jessups an.«
Royce hatte immer noch einen englischen Akzent, obwohl er über die Hälfte seiner fünfzig Jahre in den Staaten gelebt hatte. Er verlieh ihm eine Aura von Kultiviertheit und Distinktion, die darüber hinwegtäuschte, dass er Leute verteidigte, die abscheulicher Verbrechen angeklagt waren. Er trug einen dreiteiligen Anzug mit kaum erkennbaren Nadelstreifen im Gabardine. Sein kahler Schädel war tief braun und glatt, sein Bart schwarz gefärbt und bis auf das letzte Härchen penibel gestutzt.
»So kann man es auch sehen«, erwiderte ich.
»Aber, was ist nur aus meinen Manieren geworden? Mickey, das ist meine Assistentin Denise Graydon. Sie wird mich bei der Verteidigung Mr. Jessups unterstützen.«
Graydon stand auf und schüttelte mir mit einem festen Druck die Hand.
»Freut mich«, sagte ich.
Ich blickte mich nach Maggie um, um sie ihnen vorzustellen, aber sie war am Tisch der Anklage in ein Gespräch mit Rivas vertieft.
»Und?« Ich wandte mich wieder Royce zu. »Haben Sie Ihren Mandanten auf die Liste bekommen?«
»Das will ich doch meinen. Er kommt nach dieser Gruppe gleich als Erster dran. Ich war bereits bei ihm hinten und habe mit ihm gesprochen. Wir wollen einen Antrag auf Haftbefreiung stellen. Nachdem wir noch ein paar Minuten Zeit haben – würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz auf den Gang hinaus mitzukommen? Dort können wir uns besser unterhalten.«
»Aber gern, Clive. Am besten jetzt gleich.«
Royce sagte seiner Assistentin, sie solle im Saal bleiben und uns holen, sobald die nächste Gruppe von Angeklagten in den Glaskäfig gebracht würde. Ich folgte Royce durch die Tür in der Schranke und den Mittelgang zwischen den dicht besetzten Zuschauerbänken hinauf zur Sicherheitsschleuse, durch die wir auf den Gang hinaustraten.
»Möchten Sie sich erst eine Tasse Tee holen?«, fragte Royce.
»So viel Zeit haben wir, glaube ich, nicht. Was steht an, Clive?«
Royce verschränkte die Arme über der Brust und machte ein ernstes Gesicht.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, Mick: Nichts läge mir ferner, als Sie hier blamieren zu wollen. Ich betrachte Sie als Freund und geschätzten Kollegen. Aber Ihnen ist doch klar, dass Sie sich hier in eine Situation manövriert haben, in der Sie nur verlieren können? Was sollen wir angesichts dessen am besten tun?«
Ich lächelte und blickte mich auf dem Flur um. Es wimmelte von Menschen, aber niemand schenkte uns Beachtung.
»Wollen Sie damit sagen, dass sich Ihr Mandant mit einem Deal aus der Affäre ziehen will?«
»Ganz im Gegenteil. Wir werden uns auf gar keinen Fall auf einen Deal einlassen. Der District Attorney hat eine falsche Entscheidung getroffen, und welches Manöver er jetzt im Sinn hat und wie er Sie dabei als Bauernopfer missbrauchen will, ist nur zu leicht zu durchschauen. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie gewaltig auf die Nase fallen werden, wenn Sie darauf beharren, Jason Jessup vor Gericht zu bringen. Schon aus beruflichem Anstand halte ich es für angebracht, Ihnen das zu sagen.«
Bevor ich antworten konnte, kam Graydon aus dem Gerichtssaal auf uns zugeeilt. »In der ersten Gruppe war jemand noch nicht so weit, deshalb ist Jessup nachgerückt. Sie haben ihn bereits in den Saal
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