Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
gebracht.«
»Wir kommen sofort«, sagte Royce.
Sie zögerte zunächst, doch dann merkte sie, dass ihr Chef wollte, dass sie in den Gerichtssaal zurückging. Sie verschwand durch die Doppeltür, und Royce wandte sich wieder mir zu. Er wollte weitersprechen, aber ich kam ihm zuvor.
»Ich weiß Ihre Rücksichtnahme durchaus zu schätzen, Clive. Aber wenn Ihr Mandant einen Prozess will, kann er gern einen haben. Wir sind jedenfalls bereit, und dann werden wir ja sehen, wer auf die Nase fällt und wer wieder ins Gefängnis wandert.«
»Na dann, umso besser. Ich freue mich schon auf die Kraftprobe.«
Ich folgte ihm in den Saal zurück. Das Gericht tagte, und als ich den Mittelgang hinunterging, sah ich Lorna Taylor, meine Chefsekretärin und zweite Ex-Frau, am Rand einer der bis auf den letzten Platz besetzten Zuschauerreihen sitzen. Ich beugte mich zu ihr hinab und flüsterte:
»Hallo, was machst du denn hier?«
»Dachtest du etwa, diesen Moment würde ich mir entgehen lassen?«
»Woher wusstest du überhaupt davon? Ich habe es selbst erst vor fünfzehn Minuten erfahren.«
»Wahrscheinlich genau wie KNX . Ich war gerade in der Gegend, um mir ein paar Büros anzusehen, und dann habe ich im Radio gehört, dass Jessup dem Gericht vorgeführt wird. Da dachte ich, das siehst du dir mal an.«
»Na dann, danke, dass du gekommen bist, Lorna. Tut sich bei der Bürosuche schon was? Ich muss unbedingt raus aus diesem Gebäude. So schnell wie möglich.«
»Ich sehe mir hinterher noch drei Büros an. Das müsste reichen. Ich sage dir Bescheid, welche ich in die engere Wahl gezogen habe, okay?«
»Ja, das wäre …«
Ich hörte, wie Jessup aufgerufen wurde.
»Ich muss jetzt los. Bis gleich.«
»Zeig’s ihnen, Mickey!«
Am Tisch der Anklage war der Platz neben Maggie nun frei. Rivas hatte sich auf einen der Sitze an der Schranke zurückgezogen. Royce war beim Glaskäfig und unterhielt sich flüsternd mit seinem Mandanten. Jessup trug einen orangefarbenen Overall – die Knastuniform – und machte einen zahmen, geradezu unterwürfigen Eindruck. Er nickte zu allem, was ihm Royce ins Ohr sagte. Irgendwie sah er jünger aus, als ich erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte ich angenommen, die Jahre im Gefängnis hätten ihren Tribut gefordert. Ich wusste, er war achtundvierzig, aber er sah aus wie höchstens vierzig. Nicht einmal die typische Gefängnisblässe hatte er. Seine Haut war zwar blass, aber sie wirkte gesund, vor allem neben Royce’ übertriebener Bräune.
»Wo hast du gesteckt?«, zischte Maggie. »Ich dachte schon, ich müsste allein weitermachen.«
»Ich war nur kurz draußen, um mit dem Verteidiger zu reden. Hast du die Anklagepunkte gerade zur Hand? Für den Fall, dass ich sie zu Protokoll geben muss.«
»Du musst die Anklagepunkte nicht angeben. Alles, was du tun musst, ist aufstehen und sagen, dass du glaubst, dass Jessup eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass ein Fluchtrisiko besteht. Er …«
»Aber ich glaube doch gar nicht, dass ein Fluchtrisiko besteht. Sein Anwalt hat mir gerade gesagt, dass sie auf jeden Fall vor Gericht gehen wollen und kein Interesse an einem Deal haben. Er will das Geld, und wenn er es bekommen will, hat er gar keine andere Wahl. Er muss brav hierbleiben und vor Gericht erscheinen – und gewinnen.«
»Will heißen?«
Sie schien verblüfft und blickte auf die Akten hinab, die sich vor ihr stapelten.
»Mags, deine Maxime ist, alles in Frage zu stellen und keinen Millimeter von deiner Linie abzuweichen. Aber ich glaube nicht, dass du mit dieser Einstellung hier weit kommen wirst. Ich habe eine Strategie und …«
Sie drehte sich zu mir herum und beugte sich vor.
»Dann überlasse ich eben alles dir und deiner Strategie und deinem glatzköpfigen Spezi von der Anwaltskammer.«
Sie schob unwirsch ihren Stuhl zurück, griff nach ihrem Aktenkoffer und stand auf.
»Maggie …«
Sie rauschte durch die Tür in der Schranke und steuerte auf den Ausgang am hinteren Ende des Saals zu. Ich sah ihr hinterher und war mir dabei sehr wohl bewusst, dass ungeachtet des unerfreulichen Ergebnisses kein Weg daran vorbeigeführt hätte, die Machtverhältnisse in unserem anwaltschaftlichen Verhältnis einmal grundsätzlich klarzustellen.
Jessups Name wurde aufgerufen, und Royce stellte sich vor. Dann stand ich auf und sagte die Worte, die ich niemals zu sagen geglaubt hatte.
»Michael Haller für das Volk.«
Sogar Richter Firestone sah von der Richterbank auf und linste mich
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