Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
so wichtig. Sie sind derjenige, der eine Entscheidung zu treffen hat, Clive.«
»Und wie sollte die aussehen? Ein Vergleich, Mick?«
»Richtig. Ein Sonderangebot, aber nur bis fünf Uhr gültig. Ihr Mann bekennt sich schuldig, ich rücke von der Todesstrafe ab, und was das Strafmaß des Richters angeht, lassen wir es beide darauf ankommen. Wer weiß, vielleicht kommt Jessup für die bereits verbüßte Haft frei.«
Royce lächelte herzlich und schüttelte den Kopf.
»Für die Stadtoberen wäre das natürlich ideal, aber da muss ich Sie leider enttäuschen, Mick. Mein Mandant hat weiterhin keinerlei Interesse an einem Deal. Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Eigentlich hatte ich gehofft, Sie hätten inzwischen eingesehen, wie sinnlos es ist, vor Gericht zu gehen, und würden die Anklage deshalb einfach fallenlassen. Sie können diesen Prozess nicht gewinnen, Mick. In diesem Fall muss sich der Staat leider geschlagen geben, und dummerweise sind Sie der Trottel, der sich bereit erklärt hat, dafür den Kopf hinzuhalten.«
»Das wollen wir doch erst mal sehen.«
»Und ob wir das sehen werden.«
Ich öffnete die mittlere Schreibtischschublade und nahm eine grüne Plastikhülle mit einer CD - ROM heraus. Ich schob sie ihm über den Schreibtisch zu.
»Es wundert mich ein wenig, dass Sie deswegen persönlich vorbeikommen, Clive. Eigentlich hatte ich erwartet, Sie würden einen Ermittler oder eine Sekretärin vorbeischicken. Sie haben doch mehrere Leute für sich arbeiten, oder nicht? Abgesehen von Ihrem Vollzeit-Pressesprecher.«
Royce nahm die CD langsam an sich. Auf der Plastikhülle stand VERTEIDIGUNG OFFENLEGUNG I.
»Was sind wir heute aber bissig. Dabei waren Sie doch vor zwei Wochen noch einer von uns, wenn ich das richtig sehe, Mick. Ein bescheidenes Mitglied der Anwaltskammer.«
Ich nickte zum Zeichen meiner Reue. Das hatte gesessen.
»Entschuldigung, Clive. Vielleicht steigt mir die Macht des Amts bereits zu Kopf.«
»Klar, schon gut.«
»Und Entschuldigung auch, dass Sie deswegen extra hierherkommen mussten. Wie ich Ihnen bereits am Telefon gesagt habe, ist auf dieser CD alles drauf, was uns bis heute Morgen vorlag. Hauptsächlich die alten Akten und Berichte. In Sachen Akteneinsicht habe ich nicht vor, irgendwelche Spielchen mit Ihnen zu treiben, Clive. Dafür habe ich diesen Affenzirkus schon zu oft von der anderen Seite miterlebt. Deshalb: Wenn ich etwas erhalte, erhalten Sie es auch. Aber im Moment ist das alles, was ich habe.«
Royce tippte mit dem Rand der CD -Hülle auf die Schreibtischkante.
»Keine Zeugenliste?«
»Doch, natürlich. Aber bisher ist es im Wesentlichen die gleiche wie beim Prozess von ’86. Ich habe meinen Ermittler hinzugefügt und ein paar Namen gestrichen – die Eltern und verschiedene andere Leute, die inzwischen gestorben sind.«
»Zweifellos wurde auch Felix Turner herausgenommen.«
Ich grinste über beide Ohren.
»Zum Glück werden Sie ihn beim Prozess nicht in den Zeugenstand rufen können.«
»Ja, wirklich schade. Ich hätte ihn dem Staat liebend gern um die Ohren gehauen.«
Ich nickte. Mir war nicht entgangen, dass Royce seine feine englische Art abgelegt hatte und mir jetzt mit amerikanischer Direktheit in Reinkultur kam. Das war ein Zeichen seines Frusts über Turner, was ich als langjähriger Strafverteidiger nur zu gut nachempfinden konnte. Bei der Wiederaufnahme käme kein einziger Aspekt des ersten Prozesses zur Sprache. Die neuen Geschworenen hätten keinerlei Kenntnisse von den Dingen, die damals durchgesickert waren. Und das hieß, der Umstand, dass der Staat – auch wenn das noch so unverzeihlich war – auf den korrupten Gefängnisinformanten zurückgegriffen hatte, hätte für die aktuelle Anklage keinerlei nachteilige Auswirkungen.
Ich beschloss, zum nächsten Punkt zu kommen.
»Bis Ende der Woche müsste ich eine weitere CD für Sie haben.«
»Ja, ich kann es kaum erwarten, zu sehen, was Sie sich alles haben einfallen lassen.«
Sarkasmus zur Kenntnis genommen.
»Vergessen Sie nur eines nicht, Clive. Die Offenlegung ist keine Einbahnstraße. Wenn Sie sich mehr als dreißig Tage damit Zeit lassen, werden wir uns beim Richter beschweren.«
Den Beweisführungsregeln zufolge mussten beide Parteien spätestens dreißig Tage vor Prozessbeginn die Offenlegungsakte übergeben. Ein Überschreiten dieser Frist konnte Sanktionen und eine Verschiebung der Hauptverhandlung nach sich ziehen, weil der Richter der benachteiligten Partei
Weitere Kostenlose Bücher