Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
einem Bier in der Hand einen Highschool-Kumpel umarmte, wie er durch eine Glastür mit der Aufschrift ROYCE UND PARTNER , RECHTSANWÄLTE ging. Weder im Tonfall des Artikels noch in den Fotos fand sich auch nur der Hauch einer Andeutung, dass Jason Jessup nach wie vor des Mordes an einem zwölfjährigen Mädchen angeklagt war. Der Zeitungsbericht befasste sich ausschließlich damit, wie Jessup seine Freiheit in vollen Zügen genoss, und führte als einzigen Wermutstropfen an, dass er noch keine Zukunftspläne schmieden könne, da es noch »ein paar rechtliche Fragen« zu klären gelte. Ich hielt es für eine interessante Formulierung, eine Anklage wegen Entführung und Mordes sowie ein anhängiges Verfahren als »ein paar rechtliche Fragen« zu bezeichnen.
Ich hatte die Zeitung auf dem Schreibtisch des neuen Büros ausgebreitet, das Lorna am Broadway für mich angemietet hatte. Es lag im ersten Stock des Bradbury Building, nur drei Blocks vom CCB entfernt.
»Ich finde, Sie sollten sich ein paar Bilder an die Wand hängen.«
Ich blickte auf. Es war Clive Royce. Er war unangemeldet durch das Vorzimmer hereingekommen, weil ich Lorna losgeschickt hatte, um aus dem Philippe’s etwas zum Mittagessen zu holen. Royce deutete auf die kahlen Wände des provisorischen Büros. Ich klappte die Zeitung zu und hielt die erste Seite hoch.
»Ich habe mir gerade ein Poster von unserem Jesus auf dem Surfboard bestellt. Das werde ich hier aufhängen.«
Royce blieb vor dem Schreibtisch stehen, griff nach der Zeitung und betrachtete das Foto auf der ersten Seite, als sähe er es zum ersten Mal.
Aber wir wussten beide, dass das nicht zutraf. Royce war maßgeblich an der Entstehung des Zeitungsartikels beteiligt gewesen, und die Belohnung dafür war das Foto von seinem Namen auf der Eingangstür seiner Kanzlei.
»Ja, wirklich gut gelungen.«
Er gab mir die Zeitung zurück.
»Zumindest in den Augen von Leuten, die finden, dass auch Mörder ihren Spaß haben sollten.«
Weil Royce darauf nichts erwiderte, fuhr ich fort: »Ich weiß, was Sie tun, Clive, weil ich es auch täte. Aber sobald wir einen Richter zugeteilt bekommen, werde ich ihn bitten, Ihnen einen Riegel vorzuschieben. Ich werde nicht zulassen, dass Sie die Geschworenenauswahl verderben.«
Royce legte die Stirn in Falten, als hätte ich ihm etwas vollkommen Unzutreffendes unterstellt.
»Wir haben eine freie Presse, Mick. Man kann die Medien nicht kontrollieren. Der Mann ist gerade aus dem Gefängnis gekommen, und ob Ihnen das passt oder nicht: Das ist eine Nachricht.«
»Richtig, und Sie können als Gegenleistung für die entsprechende Medienpräsenz Exklusivinterviews anbieten. Für eine Medienpräsenz, die bereits bestimmte Vorstellungen in den Köpfen potenzieller Geschworener wecken könnte. Was ist für heute geplant? Jessup als Gastmoderator des Morgenprogramms von Channel Five? Oder als Juror eines Jahrmarktskochwettbewerbs für das beste Chili?«
»Wenn Sie es schon so genau wissen wollen: Eigentlich wollte ihn NPR bei seinen heutigen Unternehmungen begleiten, aber ich habe mich dagegen ausgesprochen. Ich habe nein gesagt. Sehen Sie also zu, dass Sie dem Richter gegenüber auch das erwähnen.«
»Tatsächlich? Sie haben zu NPR wirklich nein gesagt? War das, weil die meisten NPR -Hörer zu den Leuten gehören, die sich der Verpflichtung, sich als Geschworene zur Verfügung zu stellen, entziehen, oder weil sich etwas Besseres geboten hat?«
Royce runzelte erneut die Stirn und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn mit einem Integritätsspeer aufgespießt. Er blickte sich um, zog sich Maggies Schreibtischstuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Sobald er die Beine übereinandergeschlagen und seinen Anzug zurechtgezupft hatte, begann er: »Jetzt sagen Sie mal, Mick, glaubt Ihr Boss allen Ernstes, bloß weil er Sie in einem anderen Gebäude unterbringt, werden ihm die Leute abnehmen, dass Sie in keiner Weise abhängig von ihm sind? Sie machen uns doch nur was vor, oder?«
Ich lächelte ihn an. Seine Versuche, mich zu verunsichern, waren vergeblich.
»Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, Clive, dass ich in diesem Verfahren keinen Boss habe. Ich bin Gabriel Williams gegenüber nicht weisungsgebunden.«
Ich deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung auf das Zimmer.
»Ich bin hier, nicht im Gerichtsgebäude, und alle diesen Fall betreffenden Entscheidungen werden an diesem Schreibtisch getroffen. Im Moment sind allerdings meine Entscheidungen nicht
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