Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Prozess.«
»Du weißt schon, dass du damit bis zur Dreißig-Tage-Frist hättest warten können.«
»Sicher, aber wozu?«
»Aus taktischen Gründen. Je früher du ihm Akteneinsicht gewährst, umso mehr Zeit hat er, sich vorzubereiten. Er versucht, uns unter Druck zu setzen, indem er nicht auf ein rasches Verfahren verzichtet. Deshalb solltest du ihm Gleiches mit Gleichem vergelten und dir erst dann von ihm in die Karten schauen lassen, wenn es sich nicht mehr umgehen lässt. Dreißig Tage vor Prozessbeginn.«
»Ich werde bei der nächsten Runde daran denken. Aber es war sowieso alles nur harmloser Kram.«
»Stand Sarah Gleason auf der Zeugenliste?«
»Ja, aber unter dem Namen Sarah Landy – wie sie ’86 hieß. Und als Adresse habe ich die Kanzlei angegeben. Clive weiß nicht, dass wir sie gefunden haben.«
»Das muss auch so lange so bleiben, bis wir es ihm sagen müssen. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie sich bedrängt oder gar bedroht fühlt.«
»Was hast du ihr über ihren Auftritt vor Gericht erzählt?«
»Dass wir sie beim Prozess wahrscheinlich zwei Tage brauchen werden. Und dann noch An- und Abreise.«
»Und das ist für sie okay?«
»Na ja … sie hat eine eigene Firma, allerdings erst seit ein paar Jahren. Im Moment hat sie zwar einen größeren Auftrag, aber ansonsten, sagt sie, hat sie nicht so wahnsinnig viel zu tun. Wenn mich nicht alles täuscht, kann sie jederzeit nach L.A. kommen, egal, wann wir sie brauchen.«
»Bist du noch in Port Townsend?«
»Ja, wir sind erst vor ungefähr einer Stunde mit ihr fertig geworden. Wir waren essen und haben in einem Hotel eingecheckt. War ein anstrengender Tag.«
»Und ihr kommt morgen zurück?«
»Haben wir jedenfalls vor. Aber unser Flug geht erst um zwei. Wir müssen die Fähre nehmen – nur zum Flughafen zu kommen ist eine halbe Weltreise.«
»Okay, dann ruf mich vielleicht morgen früh an, bevor ihr losfahrt. Nur für den Fall, dass mir zu der Zeugin noch was einfällt.«
»Alles klar.«
»Hat sich einer von euch Notizen gemacht?«
»Nein. Wir dachten, dann wäre sie vielleicht nicht so auskunftsbereit.«
»Habt ihr das Gespräch aufgenommen?«
»Nein. Aus demselben Grund.«
»Gut. Ich möchte so wenig wie möglich davon in die Offenlegung einfließen lassen. Sag Bosch, er soll sich nichts aufschreiben. Wir können Royce vielleicht sagen, dass sie bei der Fotogegenüberstellung eine Identifizierung vorgenommen hat, aber damit hat es sich auch schon.«
»Alles klar. Ich werde Harry Bescheid sagen.«
»Wann, heute Abend noch oder morgen?«
»Wie soll ich das jetzt verstehen?«
»Ach nichts, vergiss es. Sonst noch was?«
»Ja.«
Ich wappnete mich innerlich. Einen kurzen Moment war meine kleinliche Eifersucht mit mir durchgegangen.
»Ich würde noch gern meiner Tochter gute Nacht sagen.«
»Ach so.« Die Erleichterung schoss durch meinen Körper. »Moment, ich gebe sie dir.«
Ich brachte Hayley das Telefon.
»Deine Mutter.«
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Teil 2
Das Labyrinth
14
Dienstag, 23. Februar, 20:45 Uhr
B eide arbeiteten schweigend. Bosch an einem Ende des Esszimmertischs, seine Tochter am anderen. Er an der ersten Lieferung SIS -Observierungsprotokolle, sie an ihren Hausaufgaben, vor ihr die Schulbücher und der Laptop. Was die räumliche Entfernung anging, waren sie sich nahe, aber sonst nicht in vielem. Der Fall Jessup nahm Bosch total in Beschlag; er spürte alte Zeugen auf und versuchte, neue aufzutun. In letzter Zeit hatte er wenig Zeit mit Madeline verbracht. Wie ihre Eltern neigte Maddie dazu, nachtragend zu sein. Sie hatte die Kränkung, eine Nacht der Obhut einer stellvertretenden Schulleiterin anvertraut zu werden, noch nicht verwunden. Sie strafte Bosch mit Schweigen und war selbst mit vierzehn schon eine Meisterin ihres Fachs.
Die SIS -Protokolle waren eine weitere Enttäuschung für Bosch. Nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen der Verzögerung, mit der sie ihn erreichten. Sie waren durch bürokratische Kanäle gewandert, vom SIS -Büro zum RHD -Büro und dann zu Boschs Vorgesetztem, bei dem sie drei Tage lang in einem Korb gelegen hatten, bevor sie endlich auf Boschs Schreibtisch gelandet waren. Das hatte zur Folge, dass er die Protokolle der ersten drei Tage von Jason Jessups Observierung hatte und mit einer Verzögerung von drei bis sechs Tagen Einblick in sie bekam. Das dauerte eindeutig zu lang, und deshalb musste er etwas dagegen unternehmen.
Die Protokolle enthielten knappe Schilderungen der Aktivitäten des
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