Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
fernen Punkt, als sie zu sprechen begann.
»Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, diesen Tag zu vergessen, und ich habe alles Mögliche ausprobiert, um endlich vergessen zu können. Ich habe Drogen genommen, um mir eine Art Kokon zu schaffen, in dem ich mich von allem abschotten konnte. Ich habe … egal, Tatsache ist, ich glaube nicht, dass ich Ihnen groß helfen kann.«
Bevor McPherson etwas erwidern konnte, sagte Bosch:
»Was halten Sie von folgendem Vorschlag? Wir reden jetzt ein paar Minuten einfach nur darüber, woran Sie sich noch erinnern können, ja? Und wenn das nicht klappt, dann klappt es eben nicht. Sie haben Schreckliches durchgemacht, Sarah, und wir möchten Sie auf keinen Fall noch einmal diesem Leid aussetzen.«
Er wartete eine Weile auf eine Reaktion Gleasons, aber sie saß weiterhin nur stumm da und starrte auf die Wasserflasche, die vor ihr auf dem Tisch stand.
»Fangen wir mit diesem Tag damals an«, begann Bosch schließlich. »Im Moment ist es nicht nötig, die schrecklichen Augenblicke mit Ihnen durchzugehen, in denen ihre Schwester entführt wurde. Aber können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie Jason Jessup als Täter identifiziert haben?«
Sie nickte langsam.
»Ich weiß noch, dass ich aus dem Fenster geschaut habe. Oben in meinem Zimmer. Sie haben die Jalousie leicht geöffnet, damit ich nach draußen sehen konnte, ohne dass sie mich sehen konnten. Die drei Männer. Es war der mit der Mütze. Sie forderten ihn auf, sie abzunehmen, und dann habe ich gesehen, dass er es war. Daran erinnere ich mich.«
Das Detail mit der Mütze ermutigte Bosch. Er erinnerte sich nicht, es in den Prozessakten gelesen oder in McPhersons Zusammenfassung gehört zu haben, aber dass Gleason sich daran erinnerte, war ein gutes Zeichen.
»Was war das für eine Mütze?«, fragte er.
»Eine Baseballkappe«, sagte Gleason. »Sie war blau.«
»Eine Dodgers-Mütze?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, das wusste ich auch damals nicht.«
Bosch nickte und ging einen Schritt weiter.
»Glauben Sie, Sie könnten den Mann, der Ihre Schwester entführt hat, auch heute noch identifizieren, wenn ich Ihnen Fotos mehrerer Männer vorlegen würde?«
»Meinen Sie, so, wie er jetzt aussieht? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Nein, nicht wie jetzt«, sagte McPherson. »Beim Prozess käme es nur darauf an, die Identifizierung, die Sie damals vorgenommen haben, noch einmal zu bestätigen. Wir würden Ihnen Fotos von damals zeigen.«
Gleason zögerte, aber dann nickte sie.
»Sicher. Trotz allem, was ich mir in dieser ganzen Zeit angetan habe, ist es mir nie gelungen, das Gesicht dieses Mannes zu vergessen.«
»Dann wollen wir mal sehen.«
Während Bosch den Ordner auf dem Tisch aufschlug, zündete sich Gleason an der Glut ihrer alten Zigarette eine neue an.
Die Akte enthielt Karteifotos von sechs Männern gleichen Alters, gleicher Statur und gleicher Hautfarbe. Eines davon war eine Aufnahme von Jessup aus dem Jahr 1986. Bosch wusste, dass das der Knackpunkt des Falls war.
Die sechs Schwarzweißfotos waren in zwei Dreierreihen angeordnet. Das von Jessup war in der Mitte der unteren Reihe.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte er.
Gleason nahm einen Schluck Wasser und stellte die Flasche beiseite. Sie beugte sich über den Tisch und betrachtete die Fotos aus etwa dreißig Zentimeter Entfernung. Sie brauchte nicht lang. Ohne zu zögern, deutete sie auf das Foto von Jessup.
»Was gäbe ich darum, diesen Mann vergessen zu können«, sagte sie. »Aber ich kann es einfach nicht. Er ist immer da, irgendwo im Hinterkopf. In einem dunklen Winkel.«
»Haben Sie irgendwelche Zweifel, ob Sie auch wirklich das richtige Foto ausgewählt haben?«, fragte Bosch.
Gleason beugte sich erneut über den Ordner und studierte die Fotos, dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein. Das ist der Mann.«
Bosch sah kurz McPherson an, die kaum merklich nickte. Es war eine gute Identifizierung, und sie waren dabei korrekt vorgegangen. Das Einzige, was fehlte, war eine emotionale Reaktion Gleasons. Aber vielleicht hatten sie die vergangenen vierundzwanzig Jahre vollständig ausgelaugt. Bosch nahm einen Stift und gab ihn Gleason.
»Würden Sie bitte Datum und Unterschrift auf das von Ihnen ausgewählte Foto setzen?«
»Warum?«
»Um Ihre Identifizierung zu bestätigen. Es verleiht ihr mehr Gewicht, wenn dieser Punkt vor Gericht zur Sprache kommt.«
Bosch fiel auf, dass sie nicht gefragt hatte, ob sie das richtige Foto
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