Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
langzufahren und auf die Lichter hinabzuschauen.«
Das war ein gutes Argument, das sich Bosch durch den Kopf gehen lassen musste. »Lieutenant, könnten Sie Ihren Leuten sagen, dass sie mich sofort anrufen, wenn er das nächste Mal wieder da rauffährt? Ganz egal, wie spät es ist.«
»Ich kann ihnen natürlich sagen, dass sie Sie anrufen, aber Sie können ihm dort nicht folgen. Viel zu riskant. Er darf auf keinen Fall merken, dass er observiert wird.«
»Schon klar, aber sie sollen mich trotzdem anrufen. Ich will es bloß wissen. Aber noch mal zu den Protokollen. Wäre es möglich, sie mir schneller zu schicken?«
»Wenn Sie wollen, können Sie jeden Morgen bei der SIS vorbeikommen und das aktuelle abholen. Wie Sie wahrscheinlich bereits gemerkt haben, gehen die Protokolle immer von achtzehn Uhr bis achtzehn Uhr. Und das jeweilige Tagesprotokoll liegt dann am nächsten Morgen um sieben vor.«
»Gut, Lieutenant, das werde ich machen. Und danke für den Tipp.«
»Einen schönen Abend noch.«
Bosch klappte das Handy zu und überlegte, warum Jessup zum Franklin Canyon hochfuhr und was er dort machte.
»Was hat er gesagt?«, fragte Maddie.
Bosch zögerte und überlegte zum hundertsten Mal, ob er ihr wirklich so viel über seine Fälle erzählen sollte, wie er das in der Regel tat.
»Er hat gesagt, dieser Mann ist auch die letzten zwei Nächte zu diesem Park hochgefahren. Und jedes Mal sitzt er nur da und wartet.«
»Worauf?«
»Das weiß kein Mensch.«
»Vielleicht will er bloß irgendwo sein, wo er ganz für sich ist und weg von allen anderen.«
»Vielleicht.«
Aber das bezweifelte Bosch. Er glaubte, dass hinter fast allem, was Jessup tat, eine gezielte Absicht steckte. Er musste herausfinden, was er damit bezweckte.
»Ich bin jetzt mit den Hausaufgaben fertig«, sagte Maddie. »Hast du Lust,
Lost
zu schauen?«
Sie sahen sich nach und nach die DVDs der Fernsehserie an und holten auf diese Weise die Folgen von fünf Jahren nach. In der Serie ging es um eine Gruppe von Leuten, die auf einer in keiner Karte eingetragenen Insel im Südpazifik einen Flugzeugabsturz überlebt hatten. Bosch hatte bei den vielen Folgen zwar Mühe, den Überblick nicht zu verlieren, schaute die Serie aber trotzdem mit seiner Tochter, weil Maddie total begeistert davon war.
Im Moment hatte er jedoch keine Zeit, um fernzusehen.
»Okay, eine Folge«, sagte er. »Aber dann ab ins Bett. Ich muss nämlich noch arbeiten.«
Sie lächelte zufrieden, und fürs Erste schienen Boschs grammatikalische und erzieherische Fehler vergessen.
»Leg die DVD schon mal ein«, sagte er. »Und mach dich darauf gefasst, dass du mir bei der Handlung gelegentlich auf die Sprünge helfen musst.«
Fünf Stunden später war Bosch in einem Flugzeug, das von heftigen Turbulenzen durchgeschüttelt wurde. Seine Tochter saß nicht auf dem freien Platz neben ihm, sondern auf der anderen Seite des Mittelgangs. Sie versuchten, sich über den Gang hinweg an den Händen zu halten, aber die Maschine rüttelte so heftig, dass sie immer wieder auseinandergerissen wurden. Er konnte ihre Hand nicht festhalten.
Gerade als er sich umdrehte und das Heck der Maschine abbrechen und in die Tiefe stürzen sah, wurde er von einem Summton geweckt. Er tastete auf dem Nachttisch herum und bekam sein Handy zu fassen. Er musste erst seine Stimme finden, bevor er sich melden konnte.
»Hier Bosch.«
»Hier Shipley, SIS . Ich sollte Sie anrufen.«
»Ist Jessup wieder im Park?«
»Ja, er ist in einem Park, aber heute ist es ein anderer.«
»Welcher?«
»Der Fryman Canyon am Mulholland.«
Bosch kannte den Fryman Canyon. Er war etwa zehn Minuten vom Franklin Canyon entfernt.
»Was macht er?«
»Er geht eigentlich nur auf einem der Wanderwege dort rum. Genau wie im anderen Park. Er geht eine Weile rum, und dann setzt er sich. Danach tut er nichts mehr. Sitzt nur da, und irgendwann geht er dann wieder.«
»Okay.«
Bosch schaute auf die Leuchtziffern der Uhr. Es war Punkt zwei Uhr.
»Kommen Sie her?«, fragte Shipley.
Bosch dachte an seine Tochter, die in ihrem Zimmer schlief. Er wusste, er könnte hinfahren und wäre wieder zurück, bevor sie aufwachte.
»Äh … nein, ich habe meine Tochter hier und kann sie nicht allein lassen.«
»Wie Sie meinen.«
»Wann endet Ihre Schicht?«
»Gegen sieben.«
»Können Sie mich dann noch mal anrufen?«
»Wenn Sie möchten.«
»Ich möchte, dass Sie mich jeden Morgen, wenn Sie Schluss machen, anrufen und mir sagen, wo er
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