Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
ausgewählt hatte. Das hatte sie nicht nötig, und es war eine weitere Bestätigung für die Zuverlässigkeit ihres Erinnerungsvermögens. Ein weiteres gutes Zeichen. Nachdem sie Bosch den Stift zurückgegeben hatte, klappte er den Ordner zu und schob ihn beiseite. Er sah wieder McPherson an. Jetzt kam der schwierige Teil. Wie besprochen, müsste sie jetzt entscheiden, ob sie die Sache mit der DNA sofort zur Sprache bringen oder warten sollten, bis sie sich Gleasons Kooperationsbereitschaft sicherer wären.
McPherson entschied sich dafür, nicht zu warten.
»Es gibt noch einen zweiten Punkt, Sarah, den es zu klären gilt. Wir haben Ihnen bereits von dem DNA -Test erzählt, aufgrund dessen dieser Mann eine Wiederaufnahme des Verfahrens und seine, wie wir hoffen, vorübergehende Freilassung erwirken konnte.«
»Ja.«
»Wir haben das DNA -Profil in eine Datenbank eingegeben und eine Übereinstimmung erhalten. Das Sperma auf dem Kleid Ihrer Schwester stammte von Ihrem Stiefvater.«
Bosch beobachtete Sarah Gleason scharf. Weder in ihrem Gesicht noch in ihren Augen zeigte sich auch nur ein Anflug von Überraschung. Diese Mitteilung war nichts Neues für sie.
»2004 fing der Staat Kalifornien an, von jedem wegen einer schweren Straftat festgenommenen Verdächtigen einen DNA -Abstrich zu machen. Im selben Jahr wurde Ihr Vater wegen Fahrerflucht mit Verletzungsfolge festgenommen. Er überfuhr ein Stoppschild und …«
»Stiefvater.«
»Wie bitte?«
»Sie haben ›Ihr Vater‹ gesagt. Er war nicht mein Vater. Er war mein Stiefvater.«
»Entschuldigung. Das war ein Versprecher. Entscheidend ist jedenfalls: Kensington Landys DNA war in der Datenbank und stimmte mit der Probe vom Kleid Ihrer Schwester überein. Was allerdings nicht festgestellt werden konnte, ist, wie lang sich diese Probe zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung bereits auf dem Kleid befunden hat. Sie könnte am Tag des Mordes auf das Kleid gelangt sein, aber auch schon eine Woche oder sogar einen Monat zuvor.«
Sarah Gleason war wie weggetreten. Halb war sie da, halb nicht. Ihr Blick war auf einen Punkt gerichtet, der weit außerhalb des Zimmers lag, in dem sie waren.
»Wir haben eine Theorie, Sarah. Die Autopsie, die an ihrer Schwester vorgenommen wurde, hat ergeben, dass sie weder von ihrem Mörder noch von sonst jemandem sexuell missbraucht worden ist. Außerdem wissen wir, dass das Kleid, das sie trug, Ihnen gehört hat und dass sie es sich an besagtem Morgen von Ihnen geliehen hat, weil es ihr so gut gefiel.«
McPherson machte eine Pause, aber Sarah Gleason sagte nichts.
»Wenn das Verfahren wieder aufgenommen wird, müssen wir dem Gericht eine Erklärung für das auf dem Kleid gefundene Sperma vorlegen. Gelingt uns das nicht, werden die Geschworenen davon ausgehen, dass es vom Mörder stammt und dieser Mörder Ihr Stiefvater war. Wir werden den Prozess verlieren, und Jessup, der wahre Mörder, wird freigesprochen. Das wollen Sie doch sicher nicht, Sarah, oder? Es gibt Leute, die der Ansicht sind, vierundzwanzig Jahre Gefängnis wären Strafe genug für die Ermordung eines zwölfjährigen Mädchens. Sie können nicht verstehen, warum wir diesen Mann erneut vor Gericht stellen. Aber ich möchte, dass Ihnen klar ist, dass ich nicht dieser Ansicht bin, Sarah. Ganz und gar nicht.«
Zuerst antwortete Sarah Gleason nicht. Bosch erwartete Tränen, aber es kamen keine, und er begann sich zu fragen, ob die Traumen und Niederschläge ihres Lebens jedes Gefühl in ihr abgetötet hatten. Vielleicht besaß sie auch eine innere Stärke, über die ihre zierliche Statur hinwegtäuschte. Wie dem auch sei, als sie endlich antwortete, tat sie es in einem monotonen, emotionslosen Ton, der ihre tief empfundenen Worte Lügen strafte.
»Wissen Sie, was ich immer gedacht habe?«, begann sie.
McPherson beugte sich vor.
»Was, Sarah?«
»Dass dieser Mann damals drei Menschen umgebracht hat. Zuerst meine Schwester, dann meine Mutter … und dann mich. Keine von uns ist ihm entkommen.«
Darauf trat langes Schweigen ein. McPherson streckte langsam die Hand aus und legte sie auf Gleasons Arm, eine tröstende Geste, wo es keinen Trost gab.
»Das tut mir so leid, Sarah«, hauchte McPherson.
»Okay«, sagte Gleason. »Ich werde Ihnen alles erzählen.«
13
Donnerstag, 18. Februar, 20:15 Uhr
M eine Tochter vermisste bereits die gute Küche ihrer Mutter – dabei war sie erst einen Tag weg. Ich warf ihr halb aufgegessenes Sandwich in den Müll und fragte mich, wie ich sogar
Weitere Kostenlose Bücher