Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Bosch wusste, er brauchte Hilfe. Es gab so viel, was er nicht wusste. Es gab Zeiten, da kamen sie hervorragend zurecht, und alles schien bestens. Und dann wieder gab es Tage, an denen er fürchtete, sie würde heimlich das Haus verlassen und ausreißen. Das Zusammenleben mit seiner Tochter hatte dazu geführt, dass seine Liebe zu ihr stärker geworden war, als er es je für möglich gehalten hatte. Ständig drängten sich Sorgen um ihre Sicherheit und Hoffnungen für ihre glückliche Zukunft in seinen Kopf. Sein Wunsch, ihr Leben besser zu machen und sie ihre Vergangenheit vergessen zu lassen, machte sich inzwischen manchmal als ein körperlicher Schmerz in seiner Brust bemerkbar. Trotzdem schien es, als könnte er nicht über den Mittelgang fassen. Das Flugzeug wurde durchgerüttelt, und er griff immer wieder ins Leere.
Er steckte das Handy ein und fasste wieder das Brig ins Auge. Vor dem Eingang standen mehrere Raucher herum. Dann kamen eine Stimme und das Klicken aneinanderstoßender Billardkugeln aus dem Lautsprecher.
»Er kommt raus. Retro kommt raus.«
»So früh schon?«, brummte Wright.
»Raucht er?«, fragte McPherson. »Vielleicht will er nur …«
»Soviel wir bisher mitbekommen haben, nicht.«
Bosch behielt die Tür im Auge, und wenig später ging sie auf. Ein Mann, in dem er sogar aus der Ferne Jessup erkannte, kam nach draußen und begann, den Abbot Kinney Boulevard hinunterzugehen, der in nordwestlicher Richtung schräg durch Venice führte.
»Wo steht sein Auto?«, fragte Bosch.
»Er ist zu Fuß hier«, antwortete Wright. »Er wohnt nur ein paar Straßen weiter.«
Daraufhin beobachteten sie Jessup schweigend. Er ging an zahlreichen Restaurants, Cafés und Galerien vorbei den Abbot Kinney hinunter. Auf dem Gehsteig waren viele Menschen unterwegs. Es war Samstagabend, und fast alle Lokale waren noch geöffnet. Etwa zwei Blocks weiter betrat Jessup ein Café, das Abbot’s Habit hieß. Wright trug einem seiner Männer über Funk auf, in das Café zu gehen, aber bevor der SIS -Mann Jessup dorthin folgen konnte, kam dieser mit einem Kaffeebecher in der Hand wieder heraus und setzte seinen Weg fort.
Wright startete den SUV , ordnete sich in entgegengesetzter Richtung in den Verkehr ein und wendete zwei Straßen weiter, wo Jessup ihn nicht mehr sehen könnte, wenn er sich zufällig umdrehte. Währenddessen blieb er die ganze Zeit mit den anderen Beschattern in Funkkontakt. Jessup war von einem unsichtbaren Netz umgeben. Selbst wenn er von dessen Existenz wüsste, könnte er ihm nicht entkommen.
»Er geht nach Hause«, meldete eine Stimme über Funk. »Vielleicht legt er sich ja mal früh schlafen.«
Der Abbot Kinney Boulevard, der nach dem Mann benannt war, der Venice vor mehr als einem Jahrhundert erbaut hatte, wurde zur Brooks Avenue, die ein Stück weiter die Main Street kreuzte. Jessup überquerte die Main und bog in eine für den Autoverkehr gesperrte Fußgängerstraße. Darauf war Wright vorbereitet. Er schickte zwei der Observierungsfahrzeuge zur Pacific Avenue hinüber, damit sie Jessups Verfolgung aufnehmen konnten, wenn er dort wieder herauskam.
Wright selbst hielt an der Ecke Brooks und Main und wartete auf die Meldung, dass Jessup in der Pacific aufgetaucht war. Nach zwei Minuten wurde er nervös und fragte über Funk:
»Wo steckt der Kerl, Leute?«
Er bekam keine Antwort. Niemand konnte Jessup sehen. Wright schickte ihm rasch jemanden hinterher.
»Zwei, folgt ihr ihm. Nehmt Dreiundzwanzig.«
»Alles klar.«
McPherson sah Bosch auf dem Rücksitz an und dann Wright.
»Dreiundzwanzig?«
»Wir haben verschiedene Vorgehensweisen, die wir aber über Funk nicht beim Namen nennen.«
Er deutete durch die Windschutzscheibe.
»Das ist Dreiundzwanzig.«
Bosch sah einen Mann in einem roten Blouson mit einer wärmeisolierten Pizzatragetasche die Main überqueren und in die Fußgängerstraße biegen, die Breeze Avenue hieß. Sie warteten, und endlich erwachte der Funk zum Leben.
»Ich sehe ihn nirgendwo. Ich bin bis ans andere Ende gegangen, aber er ist nirgendwo …«
Die Übertragung brach ab. Wright sagte nichts. Sie warteten, und schließlich kam dieselbe Stimme im Flüsterton zurück.
»Fast wäre ich mit ihm zusammengestoßen. Er ist zwischen zwei Häusern rausgekommen. Hat sich den Hosenlatz zugezogen.«
»Okay, hat er Lunte gerochen?«, fragte Wright.
»Sicher nicht. Ich habe ihn nach dem Breeze Court gefragt, und er hat gesagt, das ist die Breeze Avenue. Da gibt es also
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