Harry Dresden 08 - Schuldig
Gute und das Schlechte. Für gewöhnlich siehst du nichts Bestimmtes, aber du bekommst einen verdammt guten Eindruck, wer dein Gegenüber wirklich ist, und es bleibt für immer. Wenn du es einmal gesehen hast, bleibt es für immer frisch in deiner Erinnerung, und wenn du jemanden so ansiehst, blickt er auf die gleiche Weise zurück.“
Sie nickte. „Warum?“
„Ich würde mir dich gerne ansehen, wenn du das erlaubst.“
„Warum?“
Ich lächelte ein wenig, auch wenn mein Spiegelbild in einem Fenster, an dem wir vorbeikamen, vor allem traurig dreinsah. „Weil ich dir helfen will.“
Sie drehte sich weg, als wolle sie weitergehen, doch dann blieb sie unschlüssig stehen, und der Stoff ihres zerrissenen Rockes raschelte leise. „Ich verstehe nicht.“
„Ich werde dir nicht wehtun. Aber es ist notwendig, dass du mir eine gewisse Zeit lang vertraust.“
Sie nickte und biss sich auf die Lippe. „Gut. Was soll ich tun?“
Ich blieb stehen und wandte mich ihr zu. Sie folgte meinem Beispiel. „Das wird sich jetzt fremdartig anfühlen. Aber es wird nicht so lange dauern, wie es den Anschein hat.“
„Gut“, antwortete sie. Sie klang immer noch wie ein verwirrtes Kind.
Ich sah ihr in die Augen.
Eine Sekunde lang befürchtete ich, es sei nichts geschehen. Doch dann erkannte ich, dass der Seelenblick bereits eingesetzt hatte und mir Molly zeigte, die mir gegenüberstand und mir ins Gesicht sah. Doch ich sah Molly, und es schien nicht mehr an ihr zu sein, als ich vor Augen hatte. Ich konnte auch das Kirchenschiff hinter ihr erkennen und bemerkte, dass mich mehrere verschiedene Spiegelbilder aus den Kirchenfenstern anblickten.
Eines davon war eine völlig ausgezehrte Molly, so als ob sie halb verhungert oder auf irgendwelchen harten Drogen wäre. Ihre Augen blitzten in einem unangenehmen, entrückten Leuchten. Eine weitere Version schmunzelte und lachte, sie war älter, auf äußerst angenehme Art fülliger, und Kinder umringten sie. Eine dritte stand mir im grauen Cape eines Wächters gegenüber, und eine Brandnarbe, fast schon ein Brandmal, verunstaltete die Rundung ihrer Wange. In einem weiteren Spiegelbild sah Molly fast aus wie jetzt, doch viel selbstsicherer, und ein heiteres Lachen tanzte in ihren Augen. Ein weiteres Spiegelbild zeigte sie arbeitend an einem Schreibtisch.
Doch das letzte …
Die letzte Spiegelung war nicht Molly. Natürlich, oberflächlich sah sie wie Molly aus. Aber die Augen verrieten sie. Sie waren so stumpf wie die eines Reptils und leer. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, einschließlich eines schwarzen Kragens, und hatte sich ihr Haar passend gefärbt. Auch wenn sie wie Molly aussah, wie ein menschliches Wesen, war sie keines von beiden. Aus ihr war etwas vollkommen anderes, etwas sehr, sehr Bösartiges geworden.
Möglichkeiten. Ich hatte Möglichkeiten vor Augen. Aber auch wenn das Dunkel in dem Mädchen deutlich zu spüren war, hatte es noch nicht die Herrschaft über Molly erlangt. In all den möglichen Bildern war sie überlegen – auch wenn es sich um verschiedene Arten von Macht handelte, war sie stark. Sie würde Macht haben, und es würde an ihr liegen, sich zu entscheiden, sie sinnvoll einzusetzen oder zu missbrauchen.
Was sie brauchte, war ein Mentor. Jemand, der sie von der Pike auf alles lehrte und ihr zeigte, wie sie mit ihrer neugefundenen Macht umgehen konnte – und vor allem, was diese Macht im Schlepptau hatte. Ja, der dunkle Kern brannte weiterhin kalt in ihrem Herzen, aber in dieser Hinsicht lag es wohl nicht an mir, den ersten Stein zu werfen. Sie hatte das Potential, auf epische Art und Weise auf die falsche Bahn abzugleiten.
Aber war das nicht bei uns allen so?
Ich dachte an Charity und Michael, ihre Eltern, ihre Familie. Deren eigene Stärke hatte den Grundstein für Mollys Kraft gebildet und sie entscheidend geprägt. Beide sahen Magie als etwas Suspektes, wenn nicht von vornherein Böses, das aber auf jeden Fall eine enorme Gefahr darstellte. Dass sie der Macht, die sich bei Molly gezeigt hatte, gegenüber so negativ eingestellt waren, konnte zur Folge haben, dass sich die Stärke, die sie ihrer Tochter mit auf den Weg gegeben hatten, gegen sie wandte. Wenn sie daran glaubte oder man sie jemals davon überzeugte, dass ihre Macht böse war, konnte sie das schneller auf den Pfad der linken Hand führen, als man sich versah.
Mir war bewusst, wie sehr Michael und Charity ihre Tochter am Herzen lag, und dennoch konnten sie ihr nicht helfen.
Doch eines
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