Harry Dresden 08 - Schuldig
einfliegen lassen.“
Ich machte ein düsteres Gesicht. „Vielleicht hätte er gleich ein paar Posaunen blasen können. Oder eine Blaskapelle mitbringen. Wenn er sich beeilt, schafft er es höchstwahrscheinlich noch, an ein paar dieser riesigen Scheinwerfer ranzukommen.“
Sie rollte mit den Augen. „Gut, ich hab’s verstanden. Dir gefällt der ganze Lärm hier nicht.“
„Mir gefallen all die potentiellen Opfer nicht“, widersprach ich. „Ich wette fünfzig Kröten, dass ein Großteil noch minderjährig ist.“
„Ich wette nicht“, antwortete sie. „Macht das einen Unterschied?“
„Möglicherweise. Im Allgemeinen empfinden junge Menschen, vor allem Pubertierende, Emotionen sehr viel nachhaltiger. Die ganze Hormonkiste. Dadurch werden sie zu einfacheren Zielen und bei weitem reichhaltigeren Energiequellen.“
„Warum hat es dann einen alten Knacker wie Pell zuerst erwischt?“
Ich öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. „Gutes Argument.“
„Außerdem“, fuhr sie fort, „ist es nicht gut, wenn mehr Leute achtgeben? Nach dem, was du mir erzählt hast, mögen Spukgestalten doch keine Menschenansammlungen.“
„Für gewöhnlich tun sie das auch nicht“, sagte ich. „Aber auch gestern war das Hotel keine Geisterstadt, als der Furchtfresser auftauchte.“
„Glaubst du, er wird sich vor all den Leuten zeigen?“
„Ich glaube, die Menge wird ihn zumindest nicht abschrecken. Ich glaube, dass mehr Furcht erzeugt wird und unser Killer mehr zu fressen bekommt, wenn viele Leute hier sind, wenn etwas Schlimmes passiert, und eine Panik mit mehr Leuten bedeutet auch, dass mehr Leute verletzt werden können.“
Murphy zog ihre blass goldenen Augenbrauen nachdenklich zusammen. „Welche Wahlmöglichkeiten kannst du mir geben?“
„Ich kann’s nicht garantieren, aber ich denke, wir haben bis Sonnenuntergang Zeit.“
„Warum?“
„Weil er nach Anbruch der Dunkelheit stärker sein wird.“
Murphy grübelte kurz. „Meinst du, Pell hat deshalb überlebt? Es war Tag.“
„Bingo“, antwortete ich. „Mal angenommen, wir haben bis zum Sonnenuntergang, dann bleibt uns ein wenig Zeit, um uns vorzubereiten.“
„Was tun wir in dieser Zeit?“
„Wir errichten ein paar Schutzzauber“, entgegnete ich.
„Wie bei dir daheim?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nichts so Komplexes. Zu wenig Zeit. Ich kann keinen Wassergraben um den Laden hier herum ausheben, aber ich glaube, ich kann ein Netz weben, das uns verrät, wenn irgendetwas aus dem Niemalsland hier herüber wechselt. Allerdings muss ich ordentlich in diesem Gebäude herumstiefeln, um möglichst viel Raum abzudecken.“
Sie nickte. „Aber das ändert nichts an den Problemen, die uns die Menschenmasse bereiten könnte.“
Ich verzog das Gesicht. „Kennst du jemanden bei der Feuerwehr?“
„Einen Cousin von mir“, sagte sie.
„Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber hat die Feuerwehr etwas herausgefunden? Oder der Gerichtsmediziner?“
„Die Obduktion hat nichts ergeben. Sie haben den Fall auch nicht an Butters übergeben. Brioche hat sich darum gekümmert und natürlich nichts Außergewöhnliches feststellen können.“
„Natürlich“, seufzte ich. „Greene?“
„Theorien. Er hat den vagen Verdacht, es könne sich um einen Marketinggag handeln, um weitere Besucher anzulocken.“
„Das ist ein wenig zynisch“, sagte ich.
„Greene glaubt nicht an das Übernatürliche“, sagte Murphy, „und er ist ein ausgebildeter Ermittler, der ein handfestes Motiv braucht. Wenn er davon ausgeht, dass der Mörder nur ein Gestörter war, hat er fast nichts, mit dem er arbeiten könnte. Also klammert er sich an Strohhalme und hofft, irgendetwas zu finden, was ihm vertraut ist, um den Mörder möglichst schnell festzunageln.“
Ich grunzte. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Ich beneide ihn wirklich nicht“, sagte Murphy. „Ich mag ihn nicht besonders, aber er ist Polizist, und er steckt ziemlich in der Klemme. Die Chancen stehen gut, dass er nicht das Geringste dagegen unternehmen kann, und er weiß das noch nicht einmal.“
Ihr letzter Satz hatte ein Gewicht, das persönlichen Schmerz verriet.
Murphy hatte sich in derselben Situation befunden wie Greene. Etwas Bizarres war geschehen und hatte nicht den geringsten Sinn ergeben. Murphy war zum ersten Mal über die Welt des Übernatürlichen gestolpert, als sie noch einfache Streifenpolizistin gewesen war. Das verschaffte ihr jetzt als Detective einen unschätzbaren Vorteil,
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