Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Mobiltelefon angerufen?“
„Schon wieder haben wir eine Pattsituation, wie bereits zuvor. Es ist nebensächlich, was ich sage, da Sie eindeutig nicht willens sind, mir Glauben zu schenken.“
„Haben Sie sie angerufen?“, fragte ich.
Sie starrte in die Luft vor sich, und ihre Augen waren so stumpf und leer, dass ihre elegante schwarze Kleidung fast wie ein Trauergewand wirkte. Ich war mir nicht sicher, ob es für die Trauergäste oder den Verstorbenen angemessener gewesen wäre. Dann kniff sie die Augen zusammen und nickte. „Ah. Sie wollen mir in die Augen sehen. Ich glaube, der Fachausdruck ist Seelenblick, auch wenn er etwas überdramatisch klingt.“
„Ja“, entgegnete ich.
„Ich war mir nicht bewusst, dass das ein Lügendetektor ist.“
„Das ist auch nicht der Fall“, sagte ich. „Aber er ermöglicht mir einzuschätzen, was für ein Mensch Sie sind.“
„Ich weiß, was für ein Mensch ich bin“, erwiderte sie. „Ich bin eine Psychopathin mit Borderline-Syndrom. Ich bin gefühllos, berechnend, leer und kann meinen Mitmenschen gegenüber nur wenig Anteilnahme aufbringen. Aber andererseits können Sie mir da nicht so ohne weiteres Glauben schenken, nicht wahr?“
Ich sah sie eine Zeit lang einfach an. „Nein“, sagte ich sehr leise. „Ich glaube nicht, dass ich das kann.“
„Ich habe nicht die geringste Absicht, Ihnen irgendetwas zu beweisen. Ich werde mich so einem Angriff auf meine Privatsphäre nicht unterwerfen.“
„Selbst wenn das den Tod Ihrer Freundinnen im Ordo bedeuten könnte?“
Sie zögerte kurz, ehe sie antwortete. „Ich habe es nicht geschafft, sie zu schützen. Trotz all …“ Ihre Stimme versagte, und sie schüttelte den Kopf. Dann kehrte Zuversicht auf ihre Züge und in ihre Stimme zurück. „Anna wird sie schützen.“
Ich musterte sie eine Zeit lang, und sie entgegnete eisig meinen Blick, wobei sie auf die Stelle zwischen meinen Augenbrauen sah, um einem direktem Blickkontakt auszuweichen.
„Anna ist Ihnen wichtig?“, fragte ich.
„Soweit das überhaupt möglich ist“, antwortete sie. „Sie war nett zu mir, ohne dass dafür ein Grund bestand. Sie hatte nichts zu gewinnen. Sie ist ein guter Mensch.“
Ich beobachtete sie. Ich hatte jede Menge Arbeit als Profiermittler und auch als Profimagier hinter mir. Magie war wahnsinnig faszinierend und nützlich, aber sie brachte einem nicht unbedingt viel über seine Mitmenschen bei. Sie war besser dafür geeignet, einem etwas über sich selbst beizubringen.
Im Ermittlungsgewerbe hingegen drehte sich alles um Menschen. Die ganze Zeit über sprach man mit Leuten, stellte ihnen Fragen und hörte ihnen beim Lügen zu. Die meisten Fälle, bei denen ein Ermittler hinzugezogen wurde, hatten jede Menge mit Lügen zu tun. Große, kleine, dumme und Notlügen. Die schlimmste Lüge war fast immer Schweigen – oder die Wahrheit, die von ein wenig Täuschung beschmutzt war, so dass sie bis in den tiefsten Kern verfaulte.
Helen log nicht. Sie war höchstwahrscheinlich gefährlich, hatte sich wahrscheinlich in der Vergangenheit schwarzer Magie hingegeben, um sich zu rächen, war vermutlich abgestumpft und reserviert – doch sie hatte nicht den Bruchteil einer Sekunde versucht, das zu verbergen oder etwas, das geschehen war, abzustreiten.
„Oh Gott“, sagte ich leise. „Sie wissen es noch nicht.“
Sie sah mich einen Augenblick stirnrunzelnd an – dann wurde ihr Gesicht seltsam ausdruckslos und leer. „Oh.“ Sie schloss die Augen und sagte: „Oh, Anna. Du arme Närrin.“ Sie öffnete sie einen Augenblick später. Sie räusperte sich und fragte: „Wann?“
„Vor ein paar Stunden. Im Hotel. Suizid.“
„Die anderen?“
„In Sicherheit. Gut versteckt und beschützt.“ Ich holte tief Luft. „Ich muss sicher sein, Helen. Wenn Ihnen auch nur das Geringste an den anderen liegt, arbeiten Sie mit mir zusammen. Helfen Sie mir.“
Sie nickte, und ihre Augen starrten in die Ferne. Dann sagte sie: „Für die anderen“ und blickte mir in die Augen.
Das Phänomen, das man als Seelenblick bezeichnete, war eine verdammt geheimnisvolle Angelegenheit. Noch nie hatte jemand wirklich bis ins letzte Detail ausknobeln können, wie er tatsächlich funktioniert. Die besten Beschreibungen waren daher bis jetzt auch eher poetischer als wissenschaftlicher Natur gewesen.
Die Augen waren die Fenster zur Seele.
Wenn jemand einem Magier direkt in die Augen sah, wurde die wahre Essenz seines Wesens, also wer und was er war,
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