Harry Dresden 09: Weiße Nächte
die Hand hinabblickte, die ihre Tochter hielt.
Im Kielwasser der Schüsse war die Stille laut.
Ich wollte nicht sehen, was nun kam. Wieder hatte ich keine Wahl.
Das Kind war nicht bewusstlos. Da war so viel Blut. Ihr Vater brüllte auf und kniete sich neben Helen. Er versuchte, die Blutung zu stoppen. Er riss sich das Hemd vom Leib und presste es auf den Bauch des Kindes. Er stammelte auf Helen ein und rannte zur nächsten Telefonzelle.
Blut quoll durch sein weißes Hemd, als Helen sich bemühte, das sich wehrende Kind zu halten.
Das war der unerträglichste Teil.
Das Kind hatte Schmerzen. Es schrie. Ich hatte erwartet, es werde schrecklich unmenschlich klingen, doch das war nicht der Fall. Es klang wie jedes Kind auf Gottes Erdboden, das zum ersten Mal Erfahrung mit ernsthaften Schmerzen machen musste.
„Aua“, sagte es wieder und wieder mit rauer Stimme. „Au. Au. Au.“
„Liebling“, sagte Helen. Tränen verschleierten ihre Augen. „Ich bin ja da. Ich bin da.“
„Mama, Mama, Mama“, stotterte das Mädchen. „Au, au, au.“
Das sagte das kleine Mädchen
Immer wieder.
Etwa sechzig Sekunden lang.
Dann verstummte die Kleine.
„Nein“, sagte Helen. „Nein, nein, nein.“ Sie beugte sich nach unten und betastete den Hals ihrer Tochter. Dann presste sie das Kind verzagt an ihre Brust. „Nein, nein, nein.“
Die Stimmen der beiden klangen fast gleich. Sie brannten mit derselben Pein, derselben Fassungslosigkeit.
Ich sah, wie Helen zerbrach, wie sie sich vor und zurück wiegte, wie sie versuchte, das kleine Wesen wiederzubeleben. Alles andere wurde zum unbedeutenden Durcheinander. Die geisterhaften Gestalten ihres Gatten, der Rettungssanitäter, der Cops. Verschluckte, schwache Echos von Sirenen, Stimmen, einer Kirchenorgel.
Ich hatte gewusst, dass die Beckitts es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Marcone aus Rache dafür, was die einander bekriegenden Gangster ihrer Tochter angetan hatten, zur Strecke zu bringen – doch die Geschichte zu kennen war das eine. Die herzzerreißende Pein, die der Tod ihres Mädchens einer hilflosen Mutter zugefügt hatte, mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes.
Plötzlich war alles wieder hell und neu. Helen und ihre Familie lachten wieder. In ein paar Minuten würden sie wieder zum Parkplatz gehen, und ich konnte bereits jetzt den Motor des Autos hören, dessen Beifahrer Marcone verfehlen und das kleine Kind im Heranrasen ermorden würde.
Ich riss meine Augen los und kämpfte darum, den Seelenblick zu beenden.
Ich konnte das nicht noch einmal durchmachen und in dem furchtbaren Augenblick verharren, der Helen geformt hatte.
Ich kam wieder zu mir, halb von Helen abgewandt, und stützte mich schwer atmend auf meinen Stab.
Nach längerem Schweigen sagte Helen: „Ich habe niemanden im Ordo angerufen.“
Das hatte sie nicht. Dessen war ich mir jetzt sicher.
Wenn aber Helen den Orden auf seiner fröhlichen Flucht durch die Stadt nicht an der Nase herumgeführt hatte, um ihn für den Skavis, der ihn jagte, verwundbar zu machen, musste es jemand anderes gewesen sein.
Priscilla.
Sie hatte die Anrufe entgegengenommen, hatte von ihren „Gesprächen“ mit Helen berichtet. Das bedeutete, dass sie mit dem Killer zusammenarbeitete, um Anna und die anderen für ihn ins Freie zu locken, immer eine der Frauen von der Sicherheit, die die Gruppe bot, zu isolieren, damit er sie sich allein greifen konnte.
Dann riss ich mit geweiteten Augen den Kopf hoch.
Fakt zehn: Mitten im Sommer hatte Priscilla, keine wirklich attraktive Frau, nichts anderes getragen als Rollkragenpullis.
Priscilla arbeitete nicht für den Skavis.
Priscilla war der Skavis, und ich hatte sie in der Sicherheit des Verstecks mit Olivia, Abby und all den anderen Frauen zurückgelassen.
Raubtiere. Die Vampire des Weißen Hofes waren Raubtiere. Der Skavis musste wissen, dass ich ihm auf den Fersen war und dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis ich Helen erwischte oder selbst auf die Wahrheit stieß. Sicher hatte bei ihm der Kampf-oder-Flucht-Instinkt eingesetzt.
Er hatte mich bewusst auf Helen gehetzt. Der Skavis hatte gewollt, dass ich hinter ihr herhechelte, während ich ihn mit all diesen Zielen allein ließ.
Nein. Ich hatte ihn mit den Frauen, die er verfolgte, nicht alleingelassen. Sie waren für ihn keine Bedrohung. Der Skavis hatte sich entschlossen zu kämpfen. Er hatte ein Ziel isoliert, so viel war klar, wie er es auch getan hatte, als er Jagd auf hilflose Frauen gemacht
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