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Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Titel: Harry Dresden 09: Weiße Nächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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eine wichtige Sache vergaß: Der Schmerz war für die Lebenden da. Nur die Toten fühlten keine Qualen.
    Schmerz war ein Teil des Lebens. Manchmal ein verdammt großer, manchmal aber auch nicht, aber jedenfalls war er Teil jenes großen Rätsels, der tiefgründigen Musik, des großen Spiels. Schmerz bewirkte zwei Dinge: Er lehrte einen, sagte einem, dass man am Leben war. Dann verging er und ließ einen verändert zurück. Manchmal etwas klüger. Manchmal etwas charaktervoller. Wie auch immer, der Schmerz hinterließ seine Spuren, und alles Wichtige, was einem jemals im Leben widerfuhr, beinhaltete zu einem gewissen Grad Herzeleid.
    Elaines Bild diesen Schmerz hinzuzufügen beinhaltete nicht, unvorstellbares Grauen heraufzubeschwören, sich Gewaltfantasien hinzugeben oder über eingebildetes Leid zu spekulieren. Es war nicht anders als bei einem Künstler, der eine weitere Farbe hinzu mischte, um einem Bild weitere Tiefe und Ausdruck zu verleihen, das zuvor zwar hell erstrahlt war, aber weder das Vorbild noch das Leben wahrhaftig widergespiegelt hatte. Also nahm ich das Mädchen und fügte den Schmerz hinzu, dem sich die Frau, die ich erreichen wollte, hatte stellen müssen. Vor mehr als einem Jahrzehnt war sie in die Welt hinausgetreten und hatte ab da dem Leben ohne Hilfe die Stirn bieten müssen. Sie hatte vorher immer mich und Justin gehabt, und sobald wir verschwunden waren, hatte sie sich auf die Hilfe einer Sidheprinzessin gestützt. Als diese ebenfalls nicht länger dagewesen war, hatte sie niemanden mehr gehabt – ich hatte meine Liebe jemand anderem geschenkt, und Justin war bereits seit Jahren tot.
    Sie war allein gewesen, anders als alle Menschen um sie herum, und sie hatte darum gekämpft, sich ein neues Leben und ein neues Zuhause aufzubauen.
    Also fügte ich alle Qualen hinzu, die auch ich erfahren hatte. Fehlschläge beim Kochen, die ich trotzdem hatte essen müssen. Gegenstände, die ständig den Geist aufgaben und die man reparieren und pflegen musste. Steuerwahnsinn und den verzweifelten Versuch, sich einen Weg durch den Zahlendschungel zu hacken. Verspätet eintrudelnde Bezahlungen. Unangenehme Jobs, die einem nur Blasen an den Füßen einbrachten. Seltsame Blicke von Leuten, die einen nicht kannten, wenn irgendetwas anderes als das völlig Normale passierte. Die Nächte, wenn die Einsamkeit so weh tat, dass man nur noch heulen wollte. Die eine oder andere Zusammenkunft, die so schlimm war, dass man nur noch in seine leere Wohnung flüchten wollte –, und wenn man durch das Klofenster abhauen musste. Muskelkater und Wehwehchen, die man in der Jugend nicht gekannt hatte, das Ärgernis ständig steigender Spritpreise. Der Ärger mit aufmüpfigen Nachbarn, hirnlosen Promis im Fernsehen und diversesten Politikern, die irgendwo ins Spektrum zwischen „Schwerverbrecher“ und „Vollidiot“ fielen.
    Sie wissen schon.
    Das Leben.
    Ihr Bild in meinen Gedanken wurde immer schärfer, gehaltvoller und nahm langsam Charakter an. Es ist schwer, das zu beschreiben, aber Sie erkennen es, wenn Sie es sehen, alle großen Künstler können das, weitere Schattierungen und Bedeutungsebenen und Wahrhaftigkeiten in so etwas einfaches wie das Lächeln eines Mädchens namens Mona zu zaubern, auch wenn sie Ihnen wahrscheinlich nie werden verraten können, wie sie das angestellt haben.
    Elaines Bild erlangte dunkle Flecken, Makel, Tiefe, Charakter und Stärke. Ich wusste nicht genau, was sie durchgemacht hatte – doch ich wusste genug und konnte eine Menge mehr erraten. Das Bild in meinem Geist sog mich auf, als ich mich darauf konzentrierte, wie ich mich einst unbewusst auf das Bild einer jüngeren Elaine konzentriert hatte. Ich tastete mich mit meinen Gedanken voran und berührte dieses Bild in den tiefsten Winkeln meines Geistes, hauchte ihm sachte Leben ein, als ich ihren wahren Namen sprach, den sie mir aus freien Stücken geschenkt hatte, als wir jünger waren.
    Elaine Lilian Mallory.
    Das Bild erwachte zum Leben.
    Elaines Gesicht beugte sich nach vorn und wurde von ihrem Haar verdeckt, aber nicht so sehr, dass ich den Ausdruck tiefster Erschöpfung und Verzweiflung ausmachen konnte.
    „Elaine“, wisperte ich. „Kannst du mich hören?“
    Ihre Gedanken drangen wie ein hohles Echo zu mir, wie in einem Film, wenn sie die Zuschauer verwirren wollen, indem sie die Stimmen der Schauspieler mit einem Soundeffekt überlagern. „… glauben, dass ich einen Unterschied machen könnte. Eine einzelne Person kann das

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