Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Urlaub.“
„Ja, und habe Spaß, Spaß, Spaß“, knurrte sie.
„Dann werden wir uns nicht die Mühe machen, uns etwas für später aufzusparen“, sagte ich. Ich drehte mich um und sagte: „Molly.“
Der Kopf des Mädchens fuhr fast hörbar nach oben. „Äh. Was?“
„Kannst du Schaltwagen fahren?“
Kurz herrschte Stille, dann nickte sie.
„Wenn wir ausgestiegen sind, möchte ich, dass du dich hinters Steuer klemmst und den Motor laufen lässt“, sagte ich. „Wenn du jemanden kommen siehst, hupst du. Wenn du eine große Frau in einem Rollkragenpulli wegrennen siehst, überfährst du sie.“
„Ich … aber … aber …“
„Du wolltest helfen. Jetzt hilfst du.“ Ich drehte mich wieder nach vorn. „Tu es.“
Ihre Antwort erklang reflexartig schnell. „Jawohl, Sir.“
„Was ist mit Graumantel und Madrigal?“, fragte mich Murphy. „Selbst wenn wir den Skavis ausschalten, warten die nur darauf, uns ins Kreuz zu springen.“
„Eins nach dem anderen“, sagte ich. „Fahr!“
Dann schloss ich die Augen, sammelte all meine Willenskraft und hoffte, dass ich Elaine etwas zurufen konnte – und dass sie noch am Leben war, um mich zu hören.
31. Kapitel
I ch schloss die Augen und blendete meine Sinne aus, einen nach dem anderen. Der Geruch des Wageninneren und Murphys Deo verblichen als erstes. Zumindest hatte Molly aus ihrer Erfahrung eine Lehre gezogen und auf sämtliche Duftwässerchen verzichtet, als sie den Schleiertrick zum zweiten Mal probiert hatte. Dann verschwanden alle Geräusche. Der alte, schwer arbeitende Motor des Käfers, das Poltern der Reifen bei Schlaglöchern und das Flüstern des Windes ebbten ab. Die Lichter der Nacht, die sich in unregelmäßigen Abständen durch meine Lider bohrten, verschwanden. Der gallebittere Geschmack der Furcht in meinem Mund wurde zu Nichts, als ich mich auf die improvisierte Variante des altvertrauten Spruches konzentrierte.
Elaine.
Ich hatte dasselbe Bild wie früher im Kopf. Elaine bei unserem ersten Seelenblick, das Bild einer Frau voller Mut und Eleganz, Ozeane gelassener Ruhe, das sich über das Abbild eines Schulmädchens gelegt hatte, das zum ersten Mal nackt in den Armen ihres Liebhabers lag. Ich hatte schon damals gewusst, zu welcher Frau sie heranwachsen würde, dass sich die schlaksigen Glieder und errötenden Wangen in Zuversicht, Selbstsicherheit, Schönheit und Erkenntnis wandeln würden. Die Erkenntnis war offensichtlich noch in Arbeit, was ihr Geschmack erste Liebhaber betreffend bewies, doch selbst als Erwachsener war ich wahrscheinlich nicht in der Lage, den ersten Stein zu werfen, was mein Geschmack in so gut wie jeder Richtung bewies.
Was wir damals nicht gekannt hatten, war der Schmerz.
Natürlich hatten wir weit mehr mitgemacht als die meisten anderen Kinder. Natürlich hatte DuMorne für seine Erziehungsmethoden die DeSade-Ehrenmedaille verdient, was Schmerzen anbelangte. Was wir jedoch nicht gelernt hatten, war, dass das Aufwachsen allein darin bestand, wieder und wieder verletzt zu werden und darüber hinwegzukommen. Man litt. Man erholte sich. Man wandte sich neuen Dingen zu. Die Chancen standen dabei immer ziemlich gut, dass man wieder auf die Nase fiel. Aber jedes Mal lernte man etwas.
Jedes Mal wurde man etwas stärker, und irgendwann merkte man, dass der Schmerz ebenso viele Geschmacksrichtungen hatte wie Kaffee. Es gab diesen hohlen Schmerz, wenn man etwas zurückließ – wenn man die Uni abschloss, den nächsten Schritt nach vorne ging und das hinter sich ließ, was einem vertraut und sicher erschien, um etwas Neues zu entdecken. Es gab diesen riesigen, aufwühlenden Schmerz, wenn das Leben alle Pläne auf den Kopf stellte. Es gab den schneidenden Schmerz des Versagens und die etwas obskureren Schmerzen, wenn man etwas erreicht hatte, was einem nicht das einbrachte, was man eigentlich erwartet hatte. Die süßen, kleinen Schmerzen, jemanden in seinem Leben zu finden, ihm seine Liebe zu schenken und sich daran zu erfreuen, wie er lernte und wuchs. Den unablässigen Schmerz des Mitleides, den man abschüttelte, um einem verletzten Freund beizustehen, um ihm zu helfen, seine Last zu tragen, und wenn man sehr, sehr viel Glück hatte die Feuersbrunst von Schmerz in einem Augenblick absoluter Perfektion, einem Moment des Triumphs, des Glücks oder der Fröhlichkeit, der einfach nicht bestehen bleiben konnte – und der einen dennoch den Rest seines Lebens begleitete.
Niemand mochte Schmerzen besonders, weil man oft
Weitere Kostenlose Bücher