Harry Dresden 09: Weiße Nächte
versiegelte Bleischachtel, die eine Unze halbangereicherten Urans enthielt). Sie bogen sich des Weiteren unter dem Gewicht diversester Gegenstände von arkaner Bedeutung (wie dem ausgebleichten, menschlichen Totenschädel, der ein ganzes Regal mit einem Stapel schnulziger Liebesromane für sich in Beschlag nahm) oder Kuriositäten, die sich in meinem Berufsleben angesammelt hatten (etwa der Sammlung von Vampirreißzähnen, die die US-Wächter, also vor allem Ramirez und ich, in den Scharmützeln des letzten Jahres gesammelt hatten).
An der gegenüberliegenden Wand hatte ich das Wunder vollbracht, einen winzigen Sekretär samt possierlichem Stühlchen in mein Labor zu quetschen. Hier lernte Molly, schrieb Tagebuch oder befasste sich mit magischen Tabellen. Es lagen auch einige Bücher herum, deren Lektüre ich ihr aufgebrummt hatte. Wir hatten sogar begonnen, einige Tränke für Anfänger zu brauen, und die Pipetten und Bunsenbrenner nahmen nun einen Großteil der Tischoberfläche ein. Was eigentlich gar nicht so verkehrt war, da sie die Brandflecken verdeckten, die bei ihrer ersten alchimistischen Kernschmelze entstanden waren. Neben dem Schreibtisch war ein einfacher, silberner Kreis in den Betonboden eingelassen, den ich benutzte, um irgendwelche Wesenheiten heraufzubeschwören.
Der Tisch im Labor war einmal mein Arbeitsplatz gewesen. Jetzt nicht mehr. Nun nahm Kleinchicago ihn komplett ein.
Kleinchicago war ein Miniaturmodell der Stadt. Na ja, zumindest des Stadtzentrums, das ich von seinem Herzstück bis auf das Gebiet in einem Radius von vier Meilen um Burnham Harbor ausgeweitet hatte. Handgefertigte Modelle aus Zinn bildeten jedes Gebäude, jede Straße, jeden Baum ab, und jedes dieser Modelle beinhaltete ein winziges Stückchen seines realen Widerparts – Rinde, die ich von Bäumen gepopelt, kleine Asphaltbrocken, die ich aus der Straße gebrochen und Ziegelsplitter, die ich aus Gebäudeecken gemeißelt hatte. Dieses Modell ermöglichte mir, meine Magie auf neue, äußerst interessante Arten zu nutzen, die mir eigentlich erlauben sollten, eine ganze Menge mehr über Graumantel herauszufinden, als ich es in der Vergangenheit gekonnt hätte.
Oder … es würde mir um die Ohren fliegen. Sie wissen schon. Eins von beiden.
Ich war immer noch ein Jungmagier, und Kleinchicago war ein äußerst komplexes Spielzeug, das eine unglaubliche Menge magischer Energie gespeichert hatte. Es war eine Heidenarbeit, es ständig auf Stand zu halten, damit es nur ja zum tatsächlichen Chicago passte. Anderenfalls würde es nicht mehr ordentlich funktionieren – will heißen, es würde zu einer Fehlfunktion wahrlich spektakulären Ausmaßes kommen. All die Energie, die im begrenzten Raum meines Labors freigesetzt würde, würde mich mit ziemlicher Sicherheit extra kross braten. Es war ein ausgeklügeltes, teures Werkzeug, und ich hätte nicht im Entferntesten daran gedacht, an eine derartige Herkulesaufgabe zu gehen, hätte mir kein gewiefter Berater zur Seite gestanden.
Ich nahm die Streichholzschachtel aus der Tasche, legte sie am Rand des Tisches ab und linste zu dem Schädel auf seinem Regal hoch. „Bob, auf, auf.“
Der Schädel erzitterte auf seinem Holzregal, und ein Nebel aus winzigen orangen Lichtern flackerte in seinen Augenhöhlen auf. Ein Geräusch wie ein menschliches Gähnen war zu hören, dann drehte sich der Schädel leicht in meine Richtung und fragte: „Was geht, Boss?“
„Das Böse erhebt sein freches Haupt.“
„Ja, klar“, sagte Bob, „Hauptsache, die Hauptperson hat mal wieder einen Hauptanteil am Hauptakt. Wenn du nicht den Helden spielen kannst, würde uns echt was entgehen.“
„Du hast eine Stinklaune“, bemerkte ich.
„Ich bin einfach aufgeregt. Wann lerne ich die Schnitte denn endlich kennen?“
Ich warf Bob einen giftigen Blick zu. „Sie ist keine Schnitte. Auch kein Keks, Küchlein, Törtchen oder sonstiges Zuckergebäck. Sie ist mein Lehrling.“
„Wie auch immer“, sagte Bob. „Du wirst mich ihr doch vorstellen?“
„Nein“, antwortete ich entschlossen.
„Oh“, sagte Bob mit der Stimme eines enttäuschten, schmollenden Sechsjährigen, den man ohne Gutenachtgeschichte ins Bett geschickt hat. „Warum nicht?“
„Weil sie immer noch nicht den blassesten Schimmer hat, wie man verantwortungsvoll mit Macht umgeht“, erläuterte ich.
„Ich könnte ihr dabei helfen!“, ereiferte sich Bob. „Sie würde so viel mehr zustande bringen, wenn ich sie dabei
Weitere Kostenlose Bücher