Harry Dresden 09: Weiße Nächte
weiterzugeben. Deshalb unterrichtete sie auch jeden Frühling und Herbst eine Kinderklasse und einen Selbstverteidigungskurs für Frauen in einem der Gemeindezentren in ihrer Nähe.
Damals hatte sich das für mich nach einer abgedroschenen Zen-Binsenweisheit angehört, aber herrje, sie hatte ja so recht gehabt. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich eine Stunde oder vielleicht sogar noch länger benötigt, um mich auf die richtige Geisteshaltung einzuschwingen. Jetzt allerdings, wo ich Molly das Meditieren lehrte, war ich zum ersten Mal seit Jahren die Grundsätze noch einmal durchgegangen, und ich sah sie nun aus einer völlig anderen Perspektive und mit einem tieferen Verständnis als zu der Zeit, da ich in ihrem Alter gewesen war. Mir war dadurch, dass ich sie unterrichtete, beinahe ebensoviel Verständnis für mein Wissen zuteil geworden wie Molly selbst.
Ich brauchte zehn, höchstens zwölf Minuten, um meinen Willen und meine Gedanken zu ordnen. Als ich aufstand, gab es in der großen Welt nur noch mich, Kleinchicago und meine brennende Entschlossenheit, den Mörder aufzustöbern.
„Bob?“, wisperte ich.
„Alles bestens. Alles im grünen Bereich, Captain“, sagte er, wobei er klang wie Scotty aus der alten Fernsehserie.
Ich nickte stumm. Dann konzentrierte ich mich darauf, meinen Willen zu bündeln, und die Augen des Schädels schrumpften zu winzigen, stecknadelspitzengroßen Punkten. Dasselbe geschah mit den Kerzen. Neugeborene, schwarze Schatten begannen, sich zwischen den Zinngebäuden zu erstrecken, die entlang der meisten Modellstraßen gen Himmel ragten. Die Temperatur im Labor fiel um weitere ein bis zwei Grad, als ich die Energie meiner Umgebung in mich einsog; ich spürte, wie meine Haut sich rötete, als meine Körpertemperatur im gleichen Maß anstieg. Als ich langsam ausatmete, bildete mein erhitzter Atem direkt eine Wolke, die mir aus Mund und Nase drang.
Ich bewegte mich ohne Eile und führte jeden Handgriff möglichst präzise aus, als ich nach der Streichholzschachtel griff. Ich öffnete sie und legte somit den Lacksplitter bloß. Dann beugte ich mich vor und platzierte ihn auf dem winzigen Modell meines Wohnhauses. Ich stand über dem Modell, und meine Hand berührte den Lack und die Karte der Stadt, als ich meinen Willen mit den Worten „Reperios. Invenios“ in die Welt hinausschickte.
Einen Atemzug lang schwanden mir die Sinne, dann raste mir Kleinchicago mit unglaublicher Geschwindigkeit entgegen. Die Gebäude wuchsen und wuchsen, bis ich schließlich vor dem lebensgroßen Zinnreplikat meines Wohnhauses stand.
Ich nahm mir einen Augenblick, um mich umzusehen. Es sah wirklich wie Chicago aus. Um mich herum zuckten die Andeutungen von Bewegung. Schwache Umrisse von Blättern rauschten auf Zinnbäumen, die geisterhaften Abbilder der echten Blätter an den realen Bäumen Chicagos. Schwaches Licht sickerte aus den Fensterscheiben aus Zinn. Unheimliche Autos flüsterten über die Straßen. Ich hörte die gedämpften Geräusche der Stadt, ja erschnupperte gar eine Spur der Gerüche in der Luft.
Was mich etwas aus der Fassung brachte, war jedoch Folgendes: Wenn ich meinen Blick erhob, sah ich … mich selbst. Meinen echten Körper, der über der Stadt thronte, wie Godzillas großer Bruder auf Anabolika. Im Himmel über Kleinchicago funkelten flackernde Lichter – das schwache Glosen der Kerzen und Bobs Augen, die alle viel zu groß waren, um sie für Sterne zu halten. So, wie angeblich die Sonne von den äußeren Planeten aus betrachtet aussah.
Ich hielt die Streichholzschachtel hoch, und mein Wille kroch wie eine Schlange meinen Arm hinab. Ich berührte den kleinen Lacksplitter, der in einem grünlichen Licht aufflackerte und sich über meiner Hand in die Luft hob. Dort schwebte er einen Augenblick lang, ehe er wie ein Miniaturkomet nach Norden davon schoss.
„Vielleicht kannst du den Scheiß ja in anderen Städten abziehen, Graumantel“, brummte ich. „Aber Chicago gehört mir!“
Mein Fleisch löste sich in ein pulsierendes, silbernes Licht auf, und ich spürte, wie ich der Energie des Suchzaubers hinterher raste und durch das geisterhafte Ebenbild des Nachtlebens Chicagos schoss, das das Modell um mich herum widerspiegelte. Ein weiterer Schemen ohne Substanz unter Tausenden.
Der Suchzauber verharrte eineinhalb Blocks südlich des Goudy-Parks, eines kleinen Splitters von Grün, den die Stadt irgendwie zwischen die Häuserreihen getrieben hatte. Der leuchtende Lichtfunke
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