Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
erkundigte er sich.
„Dunkel. Ruhe. Erkläre später alles.“
Er legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte: „In Ordnung.“ Dann tappte er aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ich war allein im Zimmer, nur mit meinen Gedanken. Genau das brauchte ich jetzt.
„Schön, Harry“, flüsterte ich mir zu. „Jetzt gewöhn dich mal an die Vorstellung.“
Ich dachte ganz bewusst an das Ding, das ich gesehen hatte.
Was höllisch wehtat. Aber als ich wieder bei mir war, dachte ich gleich noch einmal daran – und noch einmal und noch einmal.
Ja, ich hatte mit meinem Blick etwas Schreckliches gesehen, etwas Grässliches, Grauenhaftes, durch und durch Furchterregendes. Aber mein Blick hatte mir auch schon andere Dinge gezeigt.
Auch diese Erinnerungen rief ich in mir wach – sie waren allesamt noch so frisch und gestochen scharf wie das Schreckensbild, das jetzt neu auf mir lastete. Ich hatte gute Menschen unter dem Einfluss von schwarzer Magie wie wahnsinnig schreien sehen, ich hatte das wahre Ich von guten und schlechten Männern und Frauen gesehen, hatte gesehen, wie Menschen starben. Ich hatte die Königinnen der Feen sich auf die Schlacht vorbereiten sehen, hatte gesehen, wie sie all ihre schreckliche Macht um sich sammelten.
Nein, vor einem Ding, mochte es auch noch so grauenhaft sein, das aber eigentlich nichts weiter tat, als von einem Dach zum anderen zu hüpfen, würde ich nicht hilflos auf dem Boden kriechen. Eher wollte ich verdammt sein!
„Komm ruhig her, du armseliger Trottel“, zischte ich die Erinnerung an. „Verglichen mit den anderen bist du ein lahmes Klassenfoto.“
Ich schwang die Erinnerungen wie Keulen, schlug sie mir wieder und wieder um die Ohren, dachte, gezielt und bewusst, an jede einzelne schöne oder grässliche Sache, die mir mein Blick je gezeigt hatte, und während ich das tat, konzentrierte ich mich auf das, was ich damals, als die Erinnerung noch keine Erinnerung, sondern Realität gewesen war, jeweils getan hatte. Ich dachte jetzt auch gezielt und bewusst an die Dinge, gegen die ich angetreten war und die ich vernichtet hatte. Ich erinnerte mich an die Bollwerke der Alpträume und Schrecken, in die ich eingedrungen war, die dunklen Tore, die ich niedergerissen hatte. Ich erinnerte mich an die Gesichter von Gefangenen, die ich befreit hatte, an die Begräbnisse derer, die ich nicht hatte retten können, weil ich zu spät gekommen war. Ich erinnerte mich an Stimmen, an Lachen, an die tiefe Freude bei der Wiedervereinigung von Menschen, die einander innig liebten, an die Tränen der Verlorenen und der Trauernden.
Es gab Schlechtes in der Welt. Das war eine Tatsache, der man nicht entgehen konnte, um die man nicht herumkam. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass man das Böse einfach hinnehmen musste, dass man nichts dagegen unternehmen konnte. Man durfte sich nicht einfach vom Leben verabschieden, nur weil es einem Angst machte und die Gefahr bestand, sich manchmal auch zu verletzen.
Es tat weh, sich an das Ding zu erinnern, verdammt weh. Aber dieser Schmerz war weder etwas Besonderes, noch war er mir neu. Ich hatte schon früher mit solchem Schmerz gelebt und würde auch in Zukunft damit leben müssen. Das Ding war nicht die erste Scheußlichkeit, die mein Blick gesehen hatte und würde auch nicht die letzte sein.
Ich würde nichteinfach aufgeben und sterben.
Vorschlaghämmern gleich prasselten perfekte Erinnerungsbilder auf mich ein, bis alles um mich herum dunkel war.
***
Als ich mich wieder beieinander hatte, saß ich im Schneidersitz auf dem Bett. Meine Handflächen ruhten auf den Knien. Mein Atem ging schwer, aber gleichmäßig, mein Kopf tat weh, aber nicht so, dass es mich behindert hätte.
Prüfend sah ich mich im Zimmer um. Inzwischen hielt ich mich lange genug hier auf, meine Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt und kamen mit dem wenigen Licht aus, das unter der Tür hindurchschien. Über der Frisierkommode, gegenüber vom Bett, hing ein Spiegel, in dem ich mich sehen konnte. Ich saß aufrecht und entspannt da. Den Mantel hatte ich ausgezogen, der Spiegel zeigte mir die kleinen weißen Buchstaben, mit denen das Wort „Perfektionist“ auf mein schwarzes T-Shirt gedruckt war, spiegelverkehrt und rückwärts. Auf meiner Oberlippe trockneten zwei dünne Blutstreifen, einer unter jedem Nasenloch. Auch im Mund schmeckte ich Blut, immerhin hatte ich mir auch auf die Zunge gebissen.
Wieder dachte ich an meinen Verfolger. Die
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