Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
sich eine Braue – Anastasia war Oberbefehlshaberin der Wächter des Weißen Rates und hatte zwei Jahrhunderte Erfahrung auf dem Buckel.
„Das kenne ich“, sagte sie mitfühlend und legte mir die Hand auf den Arm. „Alles in Ordnung?“
Jetzt endlich traten wir näher aneinander heran, um einander zu umarmen. Wie steif und verkrampft ich gewesen war wurde mir erst klar, als ich in der Umarmung endlich tief ausatmete und mich ein wenig entspannte. Anastasia fühlte sich stark und schmal zugleich an. „Noch lebe ich. Ich nehme mal an, du hast mich mit einem Suchzauber gefunden? Du hast dich doch eben nicht wirklich gefragt, ob ich es nun bin oder nicht?“
Sie drückte mir einen sanften Kuss auf den Mund. „Mal ehrlich, Harry“, sagte sie lächelnd, „wer würde schon so tun, als wäre er du?“
„Jemand, der sich gern in geheimnisvollen Seitengassen von charmanten alten Frauen küssen lässt?“
Ihr Lächeln wurde einen Moment lang breiter und strahlender, ehe es plötzlich verblasste. „Ich hatte schon Angst, ich müsste die Tür aufbrechen und dich retten kommen“, sagte sie. „Was hattest du denn in der Jauchegrube des Weißen Hofs verloren?“
Wir lösten uns voneinander, ohne dass mir ganz klar war weswegen. „Ich war auf der Suche nach Informationen“, flüsterte ich. „Irgendetwas ist im Busch, und irgendwer sorgt dafür, dass ich davon nichts mitbekomme.“
Woraufhin Anastasia mit leicht finsterer Miene das Gesicht abwandte. „Ja. Das waren die Befehle.“
„Befehle!“, wiederholte ich. „Vom Merlin, nehme ich an?“
„Eigentlich von Ebenezar McCoy.“
Das wunderte mich nun doch. McCoy war mein Lehrer gewesen, als ich jung war. Ich hatte großen Respekt vor ihm.
„So langsam geht mir ein Licht auf!“ Ich nickte gedankenvoll. „Er hatte wohl Angst, ich ziehe los und nehme ein bisschen Privatrache, wenn ich höre, dass Morgan auf der Flucht ist!“
Sie warf einen Blick hoch in mein Gesicht, ehe ihre Augen sich auf die andere Straßenseite richteten, wo sich das Zero befand. „Wozu du weiß Gott Grund genug hättest“, sagte sie achselzuckend, allerdings ohne mir dabei in die Augen zu sehen.
„Warst du der gleichen Meinung wie Ebenezar?“, wollte ich wissen.
Diesmal sah sie mich mit großen Augen an. „Wäre ich dann hier?“
Ich kratzte mich stirnrunzelnd am Kopf. „Gut – da magst du recht haben.“
„Außerdem mache ich mir Sorgen um dich.“
„Sorgen?“
Sie nickte. „Morgan hat etwas getan, das ihn selbst vor dem Ältestenrat verbirgt. Ich hatte Angst, er könnte hierher kommen.“
„Pokerface, lass mich jetzt bloß nicht im Stich“, dachte ich. Laut sagte ich: „Das ist doch Schwachsinn! Warum sollte er?“
Sie straffte die Schultern und sah mir ruhig ins Gesicht. „Weil er vielleicht unschuldig ist?“
„Ja und?“
„Beim Ältestenrat sind eine Reihe von Anträgen eingegangen, die um Erlaubnis bitten, gegen dich ermitteln und dich zum Verhör vorladen zu dürfen. Es gibt Leute, die dich für den Verräter halten, der Interna an den Roten Hof weitergegeben hat.“ Erneut wandte sie den Blick ab. „Morgan war einer derjenigen, die am vehementesten Ermittlungen gegen dich gefordert haben.“
„Du sagst, Morgan weiß, dass er nicht der Verräter ist. Er hält mich dafür?“ Ich holte tief Luft. „Willst du mir das damit sagen?“
„Er ist unter Umständen unterwegs zu dir, um seine Unschuld zu beweisen. Wenn das fehlschlägt ...“
„Wird er mich töten“, sagte ich leise. „Nach dem Motto: Wenn ich schon untergehen muss, dann will ich vorher wenigstens noch den echten Verräter ausschalten.“
Plötzlich fragte ich mich, ob mir Morgan, als er auf meiner Türschwelle aufgetaucht war, wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Anastasia war Morgans Mentorin gewesen, sie hatte ihn ausgebildet. Sie kannte den Mann fast sein gesamtes Leben lang, was hieß: Sie kannte ihn seit Generationen.
Was, wenn sie ihn nun besser beurteilen konnte als ich?
Natürlich war Morgan in seiner momentanen Verfassung nicht in der Lage, mich höchstpersönlich umzubringen, aber das war ja überhaupt nicht nötig. Er brauchte einfach nur die Wächter über sein Versteck zu informieren, und wir würden gemeinsam untergehen, weil ich einem Verräter Trost und Hilfe hatte zuteil werden lassen. Eine Menge Leute im Rat machten sich nun einmal nicht viel aus mir.
Ich kam mir plötzlich sehr naiv vor. Naiv, verletzlich und vielleicht auch ein wenig dumm.
„Sie hatten ihn
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