Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
nicht war. Noch nicht genügend Beweise, um den Verdacht gegen ihn auszuräumen. Noch nicht.“
„Wenn Morgan es nicht gewesen ist“, sagte Anastasia leise, „dann läuft der Verräter immer noch frei herum.“
„Ja.“
„Du verlangst von mir, dass ich die Verfolgung eines Verdächtigen aufgebe, für dessen Schuld starke, eindeutige Beweise sprechen, Harry, und stattdessen einem verdammten Phantom nachjage. Jemandem, dessen Existenz wir bislang kaum zu beweisen imstande waren, dessen Identität uns nach wie vor ein Rätsel ist, und nicht nur das – du verlangst von mir, dass ich mich an einem gefährlichen Spiel beteilige. Dein Leben, das deines Lehrlings und mein eigenes stehen auf dem Spiel, wenn wir dieses Phantom nicht rechtzeitig finden.“
„Ja, das wünsche ich mir von dir.“
Sie schüttelte den Kopf. „Alles, was ich als Wächterin je gelernt habe, sagt mir, dass es erheblich wahrscheinlicher ist, dass Morgan den Mord begangen hat.“
„Womit wir wieder bei der eigentlichen Frage wären“, sagte ich. „Was gedenkst du zu tun?“
Das Schweigen zwischen uns dehnte sich aus.
Sie drückte sich von der Tür ab und setzte sich auf den Stuhl, der meiner Couch gegenüberstand.
„Gut“, sagte sie. „Ich brauche sämtliche Einzelheiten.“
24. Kapitel
U nter Diplomatie verstehe ich allerdings etwas anderes“, sagte Anastasia, als wir uns Chateau Raith näherten.
„Du bist jetzt in Amerika“, sagte ich. „Bei uns geht Diplomatie so: In der einen Hand die Knarre, in der anderen ein Butterbrot, und dann fragen wir die Leute, was ihnen lieber ist.“
Anastasias rechter Mundwinkel verzog sich ein wenig. „Du hast ein Butterbrot dabei?“
„Sehe ich aus wie Kissinger?“
Ich fuhr nicht zum ersten Mal ins Chateau Raith, nur hatten meine früheren Besuche immer entweder bei Nacht oder doch zumindest in der Dämmerung stattgefunden. Das Chateau lag eine gute Stunde vom eigentlichen Chicago entfernt inmitten eines riesigen Grundbesitzes und gehörte der Familie Raith, die zur Zeit das Herrscherhaus des Weißen Hofs stellte. Sie hatte den großen, alten Wald des Besitzes in eine idyllische parkähnliche Gartenanlage verwandelt, wie man sie manchmal bei jahrhundertealten europäischen Herrenhäusern antraf. Von sattem, weichem Gras umstandene riesige Bäume beherrschten die Anlage, hier und da mit verdächtig symmetrisch anmutenden „wilden“ Blühpflanzenrabatten durchsetzt, die oft im Zentrum der goldenen Sonnenstrahlen lagen, die zwischen den grünen, schattenspendenden Bäumen hindurch schienen.
Um das Anwesen zog sich ein hoher Zaun, oben stacheldrahtbewehrt, was man von außen nicht so ohne Weiteres sah. Der Zaun war noch dazu elektrisch geladen, und kleine, höchst moderne Kameras, die eher wie an Kabeln aufgereihte Glasperlen wirkten, überwachten jeden einzelnen Zentimeter der direkten Umgebung.
Bei Nacht sorgte das insgesamt für eine recht unheimliche Atmosphäre. An einem hellen Sommernachmittag wirkte die Anlage nur schön. Phantastisch schön – außerdem sah sie noch nach phantastisch viel Geld aus. Wie die Raiths selbst, so wirkte auch ihr Besitz nur dann furchteinflößend, wenn man ihn zum richtigen Zeitpunkt sah.
Ein höflich wirkender Wachmann, seinem ganzen Benehmen nach sicher ein ehemaliger Soldat, hatte zugesehen, wie wir aus dem Taxi kletterten. Er rief irgendwo an und ließ uns dann ohne große Verzögerung passieren. So spazierten wir durch das Tor und durch Little Sherwood hindurch die Auffahrt hinauf, bis wir beim eigentlichen Schloss angekommen waren.
„Wie gut sind ihre Leute?“, fragte Anastasia.
„Du hast doch sicher die Akte gelesen.“
„Ja“, sagte sie. Wir schickten uns an, die Treppe hochzusteigen. „Aber ich würde lieber auch noch deine persönliche Einschätzung kennen.“
„Seit Lara für die Einstellungen zuständig ist, hat sich einiges gebessert. Ich glaube nicht, dass sie sich noch bei ihren Leuten nähren, um sie unter Kontrolle zu halten.“
Anastasia warf mir einen Seitenblick zu. „Worauf stützt sich diese deine Einschätzung?“
Ich zuckte die Achseln. „Am Vorher und Nachher. Die letzte Schlägertruppe war ... irgendwie nicht richtig da. Bereit zu sterben, wenn man es ihnen befahl, aber alle nicht gerade Intelligenzbestien. Attraktiv und irgendwie leer. Ziemlich leer, wenn du mich fragst.“ Ich deutete zurück zum Eingang. „Der Typ dahinten hatte eine Tageszeitung in seinem Häuschen liegen und aß gerade zu Mittag, als
Weitere Kostenlose Bücher