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Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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ausgeräumt.
    In Zellers Fach stand eine Bürotasse mit einer mathe matischen Formel darauf, eine Töpferarbeit seiner Schü ler. Daneben wüstete Papier, darunter jede Menge Broschü ren von Banken über Kreditfinanzierung und Bausparen und – sieh an! – ein ausgeschnittener Zeitungsartikel von letzter Woche über einen Schwulenclub in der Wörrishofener Straße. Der Artikel kolportierte das aufgeregte Geschrei der Anwohner, die beim abendlichen Aufmarsch von Männern in der Wohngegend von Cannstatt um ihre Söhne bangten.
    Frau Schneiders Fach war bis auf einen Kugelschrei ber und eine interne Mitteilung des Rektors leer. Dassel be Rundschreiben lag auch im Fach von Müller-Elsäßer und besagte, dass aus »gegebenem Anlass« darauf hingewiesen werden müsse, dass Beamte gehalten seien, Kontakte zur Presse und zu den Medien mit den Dienstvorgesetzten abzusprechen. Schwierig für die Gattin eines Chefredakteurs. Eine Trillerpfeife und ein Bildband Surrealismus zeugten von ihren Fächern Kunst und Sport. Außerdem hütete das Fach ein Buch über Das Problem der Homosexualität von Alfred Adler, in dem nicht nur Mar quardts Name stand, sondern aus dem auch ein Zettel fiel. Es war ein verblasster Kassenbon, auf dessen Rückseite eine Telefonnummer notiert war. Die Anfangsziffern wiesen nach Cannstatt.
    Da sich mein Einbruch nicht mehr verschleiern ließ, kam es nun darauf an, falsche Fährten zu legen. Ich schwankte zwischen Vandalismus – sehr geräuschintensiv – und Diebstahl. Aber was stehlen? Ich besichtigte den Stapel Klassenarbeiten auf dem Tisch, ein Mathematiktest der Klasse 8 b. Zeller hatte alles zackig abgehakt. Steffi Bachs Arbeit sah fatal aus, alles rot: ungenügend. Aber auch insgesamt war der Test nicht gut ausgefallen. Warum sollte ich nicht den Schülern eine neue Chance geben? Zwar würden einige sich auch um ihre guten Noten betrogen sehen, aber der Verdacht konnte nicht auf einen Einzelnen fallen. Meine leisen Skrupel wurden jäh unterbrochen. Ein Knacken im Haus jagte mir den Puls hoch. Ich packte den Stapel, riss das nächste Fenster auf und schleuderte die Blätter in den Schulhof. Und dann nichts wie weg.
    Der Einsatz der Brechstange erübrigte jeden Versuch, das Fenster im Bubenklo wieder einzuhängen. Außerdem fehlten mir die Nerven dazu. Überall hätte ich mich kaltblütig erwischen lassen, nur nicht in einer Schule. Hier wirkte jede Dummheit doppelt dumm. Ich flüchtete wie eine Hase über den Schulhof zum Tor. Auf der Straße befragte ich mein Gewissen. Ich hatte ein Tabu gebrochen, war auf der anderen Seite der Tür mit dem Knauf gewesen. Das würde die Polizei erneut auf den Plan ru fen. Ich sah Isolde spöttisch lächeln.
    Eine Kirchturmuhr schlug acht. Ich erinnerte mich der Verabredung mit dem Besenwirt und marschierte die Nagoldstraße entlang. Schon von weitem sah ich die vier Faschos an der Ecke stehen und wechselte auf die andere Straßenseite. Es kam mir so vor, als seien drei von ihnen dieselben wie gestern Abend. Sie tarnten ihre Glatzen mit stirnlastigen Nackenrasurschnitten. Einer warf die Zigarette weg, alle wandten mir das Gesicht zu. Ich rannte los. Falsche Reaktion, falsche Richtung. Flucht löst den Jagdimpuls aus. Brontë stand oben, ich rannte runter. Weserstraße, Leihbücherei, Tundra. Jenseits überwältigte die Scham meine Panik. Münster war eine Schlafburg und lag im Koma. Ich stieg langsam wieder zur Bahnlinie hinauf. Das Sträßchen endete an einer Lagerhalle mit Fitnesscenter zwischen Zäunen und Gebüsch. Hier parkten nicht einmal Autos. Ich wandte mich um.
    Die vier Buben nahmen die volle Straßenbreite ein. Niemals, nicht einmal in meiner Kindheit, hatte mich solche Angst angesprungen. Ich fürchtete nicht, dass sie mich umbringen würden. Sie würden mich nur zusammenschlagen und stiefeln. Ausgeschlagene Zähne, Schädeltrauma, Nierenriss. Die Stiefel knirschten. Vor den Mündern wölkte der Atem. Einer hatte eine lange Nase, der andere runde Backen, der dritte ein Mordskinn, der vierte war weißblond. Eine Drohung absoluter Mitleidlosigkeit. Wenn die Buben mit mir fertig waren, war mein Leben nicht mehr so wie vorher.
    Ich fragte mich nicht mehr, welche Chance ich hatte. Ich musste sie nutzen. Und sie machten einen Fehler: Sie kamen im offenen Halbkreis, die Äußeren vorne, die Mittleren zwei Meter dahinter, der mit dem Kinn am weitesten hinten. Eine Formation, deren strategischer Mangel in den Machtverhältnissen der Gruppe begründet war. Der

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