Harte Schule
blitzsauber. Normalerweise baten einen die Schwaben erst an der Wohnungstür, die Schuhe auszuziehen, aber schon dieses Treppenhaus hätten wir nie mit nassen Schuhen betreten dürfen. Das Kehrwochenschild hing an einer Tür im zweiten Stock. Wer auch immer dahinter in Angst und Schrecken lebte, er würde, kaum waren wir raus, die Treppe hinabwischen müssen.
Marquardts Wohnung befand sich unterm Dach im vierten Stock. Der Vermieter bruddelte noch einmal, ehe er aufschloss, und drohte damit, uns zu verklagen, wenn wir nicht zahlten. Isolde zog Mechthild in die Wohnung, ich stoppte den Vermieter. »Laut Mietvertrag dürfen Sie die Wohnung eines Mieters nicht ohne Voranmeldung betreten.«
»I kenn Sie doch gar net.«
»Dann werden Sie uns kennenlernen.«
Mechthild brach in Tränen aus. Ich schob dem Vermieter die Tür auf die Nase.
»Das kriegen wir schon hin«, sage Isolde und legte den Arm um das Siebzigerjahregeschöpf. »Wozu sind wir denn von der Presse.«
Ich fürchtete, dass Isolde den Eindruck überschätzte, den der Presseausweis auf das solide Rechtsempfinden des Vermieters machen würde. So einer mochte vielleicht wegen der Nachbarn die Polizei nicht auf seinem Grundstück, aber er wusste die Hälfte unserer Leser auf seiner Seite, wenn es ums gute Recht von Vermietern ging.
Marquardts Wohnung hatte etwas von Resteverwertung. Ins Dach unter schräge Wände gepresst, ließ sie gerade mal Raum für einen sinnlosen Flur, ein integriertes Arbeits- und Schlafzimmer, eine Küche mit millimetergenau eingepassten Schränken und ein Klo mit Dusche. Die Möbel waren von kleinbürgerlicher Charakterlosigkeit – furniert, hellbeigegrau – und beschränkten sich auf essen, arbeiten und schlafen. Erschüttert stellte ich fest, dass Jürgen Marquardt mir ähnlich gewesen sein musste in seiner Heimatlosigkeit. In der Küche gab es kaum Lebensmittel, Töpfe und Geschirr waren höchst unvollständig. Im Kleiderschrank herrschte pulloverreiches Gestopfe. Marquardt hatte eine Vorliebe für feines Schuhwerk gehabt. Über dem Bett hing ein rötlich indisches Seidengewebe. Unter dem Kopfkissen lag das Handtuch des gewohnheitsmäßigen Masturbierers. Rasierzeug besaß Marquardt nicht. Mechthild erklärte, ihr Bruder habe an einer Allergie gelitten – Pickel – und deshalb Bart getragen.
Für mein Gefühl hätte ein Deutschlehrer entschieden mehr Bücher besitzen müssen, vor allem Literatur, die über Reclam-Bändchen des Lehrplans der letzten fünf Jahre hinausging. Aber wo hätte er sie an den schrägen Wänden unterbringen sollen? Das weite Feld der Ethik beschränkte sich auf Lehrbücher, Philosophielehren, psychologische Abrisse und Esoterik in Form von Lebenshilfetaschenbüchern. Ein Mann der großen Themen auf Bastelstundenniveau.
Die Wohnungsauflösung würde seiner Schwester nicht allzu viel Mühe machen. Die Möbel konnte man dem Nachmieter aufdrängen oder dem Sperrmüll überlassen. Für Fernseher, Videoanlage und DVD-Player reichte der Kofferraum eines Kleinwagens.
Videobänder und DVDs waren keine da. Die hatte wohl die Polizei mitgenommen.
Auf dem Tisch unterm Fenster stand ein Computer mit potentem CD-ROM- und DVD-Brenner, Tintenstrahlfarbdrucker und Telefon. Ich warf den Computer an, während Isolde sich zu Mechthild auf den Boden setzte und Aktenordner nach Verträgen, Versicherungen, Kontonummern und Bankauszügen durchsuchte. Nach dem Tod Todt Gallions hatte sein alter Herr den Papierkram erledigt, während ich im Krankenhaus lag. Er hatte mich mit einer Entschädigung auf mein Erbteil an der Safterei um das meiste mir Zustehende betrogen, aber die Lebensversicherung, die Todt zu meinen Gunsten abgeschlossen hatte, hatte mir die damals mehr als ausreichend erscheinende und den Verlust in keiner Wiese aufwiegende Summe von knapp einer Million Mark, heu te eine halbe Million Euro, beschert.
Eine Windows-XP-Maske baute sich auf. Die Textdateien waren spärlich, die Arbeitsblätter zum Islam, Judentum und Christentum hätte man genauso gut auf einer Schreibmaschine fabrizieren können. Auch die E-Mail-Korrespondenz hatte Marquardt nicht gelegen. Entweder er hatte niemanden gekannt oder alles gelöscht. Nicht gelöscht hatte er allerdings die Spam-Mails variabler Absender mit der Mitteilung: »Ich habe gerade die Sex-Show entdeckt«.
CDs waren keine vorhanden. Auch die lagen vermutlich bei der Polizei. Der Internetcache war leer. Er war auf täglich löschen eingestellt. Seine Favoritenliste
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