Harte Schule
beschränkte sich auf Lexika, Wörterbücher, die freie Enzyklopädie Wikipedia und eine Seite eines Arbeitskreises für Ethikunterricht in Bayern. »Normen und Wertvorstellungen, und somit auch Erziehungsideale, unterliegen dem Wandel des Zeitgeistes: So propagierte das Erziehungsideal des Nationalsozialismus neben der Forderung nach absolutem Gehorsam auch die Verweigerung menschlicher Wärme, um einer Verweichlichung des Kindes entgegenzuwirken. In jedem Fall übt der Erziehende Macht über das Objekt seiner Bemühungen aus.«
»Frau Ringolf«, sagte ich, »ich fürchte, wir müssen gehen.«
Isolde hob überrascht den Kopf. »Aber …«
»Die Pflicht ruft.«
Mechthild schaute mich an wie eine Frau, die es gewohnt ist, dass andere über sie bestimmen, resigniert, ergeben, schwarzäugig. Sie schien sich nicht einmal Gedanken darüber zu machen, dass nicht die solide Isolde, sondern ich das Sagen hatte.
»Aber«, widersprach Isolde, »wie soll Frau Ungerer denn das alles alleine bewältigen, allein in einer fremden Stadt? Sie hat ja nicht einmal einen Wohnungsschlüssel.«
Ich ließ mich von zwei Paar vorwurfsvoller Augen dazu überreden, den Vermieter, der auf dem Hof lauerte, so lange zu bedrohen, bis er Mechthild einen Schlüssel aushändigte, nicht ohne daraufhinzuweisen, dass noch Miete für drei Monate zu bezahlen sei, da der Mietvertrag eine Kündigungsfrist von einem Vierteljahr enthalte. Dann ließen wir die Schwester mit auf den Knien gefalteten Händen und ratlosem Blick in einem Plüschsessel unterm Dach im B-Haus zurück.
Ich wertete es als Fortschritt in unserer Beziehung, dass Isolde mir die Vorwürfe nicht machte, die sie hinter gerunzelter Stirn bewegte, als wir durch die Stadt fuhren. Andererseits schade, denn so konnte ich ihr nicht unter die Nase reiben, dass der Journalist den Opfern der Ereignisse nicht half, sondern lediglich über sie berichtete.
Als wir über die Neckarbrücke auf den Schwanentun nel zufuhren, der das ehemalige Bundesgartenschauge lände zwischen Cannstatt und Stuttgart unterquerte, öffnete sie den Mund. »Seltsam, dieser Mensch hat keine einzige Versicherung abgeschlossen, keinen Bausparvertrag.«
Der Typ war mir unangenehm ähnlich; einer, der sich nicht für Weltliches interessierte.
»Er hatte auch kein Sparbuch«, sagte Isolde, »jedenfalls haben wir keines entdeckt. Aber auf seinem Girokonto liegen fast vierzigtausend Euro. Das ist doch Wahnsinn.«
»Und seine Telefonrechnung?«
»Nur ein paar Euro, zusätzlich zur Flatrate.«
»Ein einsamer Mann«, bemerkte ich. »Übrigens war er nicht einmal schwul, jedenfalls nicht praktizierend. Im Bad fehlt die Vaseline. Ich frage mich, wie er seine Pä dophilie ausgelebt hat.«
»Für Sie sind wohl alle Lehrer pervers«, sagte Isolde streng.
»Nicht nur die Lehrer.« Ich lächelte sie an. »Erziehung ist pervers. Meine Mutter, zum Beispiel, versohlte mir gern den blanken Hintern. Die Spielregeln werden immer von Erwachsenen gemacht, nie von Kindern. Darum ist Sex auch nur legitim unter Erwachsenen. Wenn Elsäßer mit Ihnen flirtet, dann wissen Sie, wie Sie ihn in die Schranken weisen können. Aber welche Chance hat ein Kind? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Im Agnes bei den Nonnen? Gab es da nicht eine Schwester Theresa, die es so gut mit Ihnen meinte, dass Ihnen angst und bange wurde?«
»Sie haben eine pubertäre Phantasie!«
Wir fuhren in den Tunnel. »Im Gegenteil. Sagt nicht Arno Schmidt: Der im-Po-tente Mann über sechzig wird zum Genie, weil er in jedem Schaltknüppel einen Phallus erkennt. Welchen Genuss hätte es ihm bereitet, jeden Morgen die CD in den Schlitz des Laufwerks zu schieben. Jürgen Marquardt befand sich in höchster sexueller Not, und trotzdem hat er kein persönliches Wort geschrieben. Ich kann mir keinen Deutschlehrer vorstellen, der nicht schreibt, wenn er nicht irgendwo anders Hand anlegen kann. Sie haben doch die Schwester gesehen. In dieser Familie ist etwas schiefgelaufen. Ich frage mich nur: War Jürgen Marquardt Täter oder Opfer?«
»Da bin ich wohl einfach zu naiv«, sagte Isolde tadelnd.
»Vielleicht sollten Sie sich Ihren nächsten Freund weniger nach der Krawatte und mehr nach der Nase aussuchen.«
Isolde lachte los, hart und hämisch.
9
Ein gigantischer Wolkenhimmel zog über die Fildern hinweg. Für Brontë gab es am Pressehaus nur noch die Feuergasse. Elsäßer stand stirnrunzelnd an der Kaffee maschine, als Isolde und ich hechelnd einliefen, und hä kelte mich
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