Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
leugnen konnte. Er war in dem Bewusstsein Ankläger geworden, dass er als Mann zur grausameren Hälfte der Menschheit gehörte, und hatte daraus die Pflicht abgeleitet, die Schuld seines Geschlechts, wenn nötig, mit allen juristischen Mitteln einer Bestrafung zuzuführen.
    Aber in diesem Moment war er plötzlich an die Gren ze des für ihn Erträglichen geraten, an den Punkt, wo er sich hasste und wo es ihn zerrissen hätte, hätte er nicht die Begabung besessen, sich jäh abzuschotten.
    Er eilte einen halben Schritt vor mir her den Gang entlang zurück zu seinem Büro. Ich sah nur seine Schulter, wünschte, ihn ins Stolpern und zum Reden zu bringen, traute mich aber nicht. Er stoppte an seiner Bürotür und ich prallte gegen ihn. Er schüttelte meine Hand ab und fauchte: »Ein für alle Mal: Fass mich nicht an!«
    »Na hör mal!«
    »Ich werde nie begreifen«, sagte er und hielt mir die schillernde Scheibe unter die Nase, »wie du das ansehen und einfach so weiter herummachen kannst wie bisher.«
    »Aber so schlimm ist der Film doch nicht. Niemand wird vergewaltigt.«
    »Wo ist da der Unterschied? Du spielst doch auch mit jedem herum, Hauptsache, dir bringt es Fun. Aber was du bei deinen … deinen Opfern anrichtest, daran denkst du nicht.«
    Ich dachte an Isoldes Parfüm und dann an Steffis aquamarinhelle Augen in ihrem Gesicht wie Milch und Zucker. »Meine Partner sind erwachsen!«, sagte ich.
    »Aber du auch? Kinder martern Frösche und Regenwürmer und später Brillenschlangen.«
    Beklommen dachte ich an meine Sandkastenfreundin, die ich nach verlorenem Wettkampf um feinen Sand, den sie mit dem gröberen Sieb bestreiten musste, den Spielregeln gemäß ohrfeigen durfte, bis sie weinte. Was hatte ich mit Isolde eigentlich anderes getan?
    »Und wenn solche Kinder groß sind«, fuhr Richard aufgebracht fort, »vergehen sie sich auch wieder an Schwächeren. Die Schwachen können nicht Nein sagen, weil sie, wenn man es geschickt einfädelt, den Liebesdienst für unerlässlich halten.«
    »Isolde ist kein Kind!«
    »Meine liebe Lisa, was weißt du von Vergewaltigungen?«
    »Tut mir ja echt leid. Vielleicht hätte ich da meinen Vater doch mal ranlassen …«
    »Vorsicht, Lisa! Geh nicht zu weit! Ich stehe zwar jetzt auf der anderen Seite und könnte jederzeit zum Täter werden, aber ich habe nicht vergessen, dass es dem schwächeren Part niemals Spaß macht, hörst du: niemals! Du, verzeihst es dir nie, vor allem dann nicht, wenn du dem Täter auch noch dankbar sein musst, dass er dich nicht geschlagen und nicht getötet hat. Du verzeihst dir nie, dass du dich nicht gewehrt hast, selbst um den Preis des Todes, weil du Angst hattest, deine sozialen oder beruflichen Zukunftsaussichten zu zerstören, wenn du einen Skandal machst.«
    »Es tut mir leid, Richard.«
    Er seufzte. »Ja, sicher.«
    Ich folgte ihm in respektvollem Abstand in sein Büro. Er verschloss die CD wieder in seinem Schreibtisch, wusch sich die Hände am Waschbecken hinter der Schranktür und nahm den kuhdungbraunen Trenchcoat aus dem Garderobenschrank. »Noch Fragen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass er einst als Referendar von einem Gerichtsdiener in einer Besenkammer vergewaltigt worden war und anschließend in betrunkenem Zustand ein geliehenes Auto zu Schrott gefahren hatte. Aber dass er darüber nach rund zwanzig Jahren die Fassung verlor, weil ein pickliger Bubi vor dem Kameraauge seines Ethiklehrers masturbierte, überstieg meinen Horizont. Und warum hütete er dieses Filmkunstwerk auch noch in seinem Schreibtisch?
    Wir trennten uns auf dem Parkplatz, wo Richards perlgrauer Mercedes im Flutlicht stand, das nachts die Staatsanwaltschaft bis in die Hinterhofwinkel der Ermittlungsrichter erhellte. Aus irgendeinem Grund, der meinen Gewohnheiten widersprach, ging ich, statt direkt über die Schienen, zu den Fußgängerüberwegen an der Kreuzung vor dem Zeppelingymnasium. Von den Schienen aus hät te ich den schwarzen Cherokee gesehen, da ich aber dem Fußweg entlang meinem Haus zustrebte, fiel mir das Gefährt an der Mündung zur Seitenstraße weiter hinten nicht auf.
    Als ich den Hausschlüssel zückte, knallte mich jemand gegen die Hauswand, drehte mir den Arm auf den Rücken und riss mich rückwärts. Es waren wenigstens zwei, die nach Leder rochen und nach Fahrenheit. Ich hörte ein fürchterliches Reifenquietschen. Richards silbergrauer Mercedes sprang die Bordsteinkante hinauf. Im Augenwinkel sah ich eine Pistole. Richard stürzte

Weitere Kostenlose Bücher