Harte Schule
Schweigepflicht nur durch den Klienten entbunden werden.«
Deutlicher hätte er mir kaum sagen können, dass Richard sein Patient gewesen war. Weißenfels musste ein guter Psychologe sein, wenn es ihm gelungen war, aus Richards Existenz als vergewaltigter Gerichtsreferendar voller Selbsthass eine neutrale Beziehung herüberzuretten. Anders als Christoph Weininger, der damals Zeuge der Alkoholfahrt und Unfallflucht samt verminderter Schuldfähigkeit gewesen war und den, so vermutete ich, Richard dafür immer noch hasste.
Der Psychologe navigierte den Volvo wie ein Schiff über die Pragkreuzung.
»Dann können Sie mir vielleicht erklären«, sagte ich, »warum der Prozess gegen die Kinderschänder von Stammheim mit einem Freispruch enden musste.«
»Vielleicht, weil die Angeklagten unschuldig waren.« Weißenfels blickte zu mir herüber. »Nein? Gut. Ich habe damals mit einem Teil der Kinder gesprochen. Eines von ihnen ist noch heute in psychologischer Behandlung. Ich habe damals im Sinne der Anklage gegutachtet. Aber das Gutachten der Verteidigung war … nun, es war eben überzeugender, nicht? Damals war gerade eine Studie erschienen, die besagte, dass man Kinder, die nachweislich nicht missbraucht wurden – aber was heißt schon nachweislich in solchen Fällen –, durch entsprechende Fragen und Puppenspiele zu denselben Antworten veranlassen kann, wie sie Kinder geben, die mutmaßlich missbraucht wurden. Sie malen ähnliche Bilder, spielen mit den Puppen dieselben Doktorspiele. Kinder sind Spezialisten, wenn es darum geht, die Erwartungen von Erwachsenen zu erfüllen. Für mich gehört die Studie allerdings zu einer besonders perfiden Form des Missbrauchs. Es kann niemals Sache der Erwachsenen sein, die sexuel le Phantasie von Kindern anzuregen und sie zu sexuellem Verhalten zu provozieren, und sei es nur in Zeichnungen zu wissenschaftlichen Zwecken. Doch die Studie schlug ein. Der damalige Staatsanwalt …«
»Fuhr.«
»… war von dem Gutachten völlig überrascht. Er schränkte die Anklage von acht auf einen Fall ein. Nach meiner Einschätzung waren es auch die offensichtlichen Zweifel der Anklage, die das Gericht letztlich zu einem Freispruch zweiter Klasse bewogen.«
»Aber wenn es doch ein Kind gibt, das offenbar Schäden davongetragen hat.«
Weißenfels schüttelte den Kopf. »Das heißt aber nicht, dass die Angeklagten tatsächlich schuldig waren. Das betreffende Kind könnte ja auch von anderen nahestehenden Personen misshandelt worden sein. Kinder zeigen nicht auf einen Erwachsenen und sagen: Der hat das und das mit mir gemacht. Sie haben Todesangst.«
»Und Teenager, zeigen die?«
»Meistens nicht. Sie fühlen sich, wenn nicht schuldig, so doch mitschuldig. Sie glauben, sie hätten den Täter provoziert. Sehen Sie: Das Gebiet der Sexualität ist für ein junges Mädchen ein Minenfeld. Im Grunde rechnet es damit, dass es irgendwo explodiert. Viele Mädchen suchen die Gefahr, sie wollen sich aus heiterem Himmel verlieben, sie wollen, dass der Frosch nach dem Kuss plötzlich ein Prinz ist. Und nun kommt so ein Onkel oder Lehrer, reagiert auf die Anmache, und bums, kommen falsche Ursache und fatale Wirkung zusammen. Der Mann straft die Lolita ab, und die Lolita hat ein tierisch schlechtes Gewissen. Vor Gericht kann sie kaum überzeugen, weil sie insgeheim weiß, wie viele schmachtende Blicke sie dem Kerl zugeworfen hat. Natürlich war es nie ihre Absicht – und das vergessen diese Männer immer –, aus der wildromantischen, mit ein paar sexuellen Ideen gewürzten Schwärmerei, die dem Mann arg zusetzen kann, eine reale Bettgeschichte zu machen. Bis siebzehn, achtzehn sind Mädchen in der Regel in die Liebe verliebt, nicht in Männer.«
»Und die Jungs, ich meine, die schwulen?«
»Oh, da sprechen Sie etwas an, das …«Er räusperte sich. »Für Jungs gilt im Prinzip dasselbe.«
Hab ich dich, dachte ich. Weißenfels wusste genau, worum es hier ging. Ich ließ ihn erst mal schwätzen. Es dauerte eine Weile, bis er klar hatte, dass Jungs sich nicht als Verführer erlebten, sondern vielmehr schreckstarr in Scham darüber verharrten, nun zu dieser verspotteten erbärmlichen Truppe der Tunten zu gehören. Sie erlebten den sexuellen Überfall als Todesurteil für ihre sich gera de ausbildende Männlichkeit. Sie saßen vor den Scherben ihrer Identität.
»Okay«, sagte ich, als wir vom Bahnhof übers Neckartor in die Neckarstraße einfuhren. »Wie kriegen wir nun Otter dran, wenn wir den Fall nicht
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