Harter Schnitt
ließ die Schultern hängen. Irgendwie wirkte sie distanziert. Er ging ihr Gespräch noch einmal durch, überlegte sich, was sie schließlich zu dem Eingeständnis gebracht hatte, dass Evelyn Mitchell nicht makellos sauber war. Er hatte noch nie erlebt, dass Amanda bei irgendetwas aufgab. Ein Teil von ihm hatte Mitleid mit ihr, ein anderer erkannte, dass er so eine Chance vielleicht nie wieder bekam.
Er griff sie an, solange sie noch geschwächt war. » Warum haben die Kerle Sie vor dem Lagerhaus nicht erschossen?«
» Ich bin ein Deputy Director des GBI . Das bedeutet jede Menge Stress.«
» Sie haben bereits eine vielfach ausgezeichnete Polizeibeamtin entführt und haben im Lagerhaus auf Sie geschossen. Sie brachten Castillo um. Warum nicht Sie?«
» Ich weiß es nicht, Will.« Sie rieb sich mit den Fingern die Augen. » Ich glaube, wir sind da mitten in irgendeinen Krieg hineingeraten.«
Will starrte das Meth-Poster an der Wand an. Eine zahnlose Frau mit verschorfter Haut starrte zurück. Er fragte sich, ob so der Junkie ausgesehen hatte, die Frau, die Sara gesagt hatte, dass vor dem Müllcontainer ein Mann liege. Wie lange hatte es gedauert, bis Marcellus Estevez tot war und Frank Heeney mit Sara auf dem Boden kämpfte und ihr mit einem Skalpell das Gesicht zerschneiden wollte?
Wahrscheinlich höchstens zehn Minuten.
Will konnte nicht anders. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. » Sie hätten es mir sagen sollen.« Deutlich hörte er in seinem Kopf eine Stimme kreischen, er solle aufhören. Aber er konnte es nicht. » Sie hatten kein Recht, es vor mir geheim zu halten.«
Amanda seufzte schwer. » Vielleicht hätte ich es tun sollen. Oder vielleicht war es richtig, es Ihnen nicht zu sagen. Wenn Ersteres zutrifft, tut es mir leid. Wenn Letzteres zutrifft, dann können Sie später wütend auf mich sein. Wir müssen diese Sache jetzt durchsprechen. Ich muss herausfinden, was los ist. Wenn nicht um meinetwillen, dann um Faith’ willen.«
Ihre Stimme klang so verzweifelt, wie er sich fühlte. Der Tag hatte sie völlig fertiggemacht. Auch jetzt konnte Will nicht anders. Sosehr er sie im Augenblick hasste, grausam konnte er nicht sein.
Und irgendwann im Verlauf dieser Unterhaltung hatte sich wirklich ein Schalter umgelegt. Er hatte es gar nicht bemerkt, aber in diesen letzten zehn Minuten war seine Wut langsam aus ihm herausgesickert, sodass Will, wenn er jetzt darüber nachdachte, wie Amanda sich in Bezug auf Sara verhalten hatte, eher schwärenden Ärger spürte statt brennendem Hass.
Er atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus, während er sich aufrichtete. » Okay. Wir müssen annehmen, dass alle toten Jungs in Julia Lings Laden arbeiteten– einige offiziell, andere schwarz, aber alle in beiden Bereichen ihres Geschäfts.«
» Sie glauben, dass Ling-Ling Ricardo Ortiz nach Schweden schickte, um Heroin zu holen?«
» Nein, ich glaube, Ricardo hat sich selbst zu viel vorgenommen. Ich glaube, er hat die Jungs aufgestachelt, bis sie dachten, sie könnten Ling-Lings Geschäft übernehmen. Er flog von sich aus nach Schweden.« Will schaute auf die Uhr. Es war schon fast sieben. » Er wurde gefoltert, wahrscheinlich von Benny Choo.«
» Warum haben sie dann nicht einfach die Drogen aus ihm herausgeschnitten und Schluss?«
» Weil er ihnen sagte, dass er wisse, wo noch mehr Geld zu holen sei.«
» Evelyn.«
» Genau das habe ich schon gesagt.« Will drehte sich Amanda zu. » Chuck Finn erwähnte in Healing Winds in einer seiner Gruppensitzungen mit Hironobu Kwon, dass seine alte Chefin auf einem Haufen Geld sitze. Springen wir zu gestern Vormittag. Ricardo hat den Bauch voller Heroin, und Benny Choo prügelt die Scheiße aus ihm heraus. Sein Freund Hironobu Kwon sagt, er weiß, wo sie Geld herbekommen können, um sich aus dem Schlamassel herauszukaufen.« Will zuckte die Achseln. » Sie fahren zu Evelyn. Benny Choo geht mit, damit sie sich nicht verdrücken. Nur, sie finden das Geld nicht, und Evelyn will es nicht herausrücken.«
» Vielleicht hatten sie nicht erwartet, Hector Ortiz bei ihr anzutreffen. Ricardo kannte den Cousin seines Vaters doch sicher.«
Will hätte gern gefragt, was Hector Ortiz überhaupt bei Evelyn zu suchen hatte, aber im Augenblick wollte er nicht, dass Evelyn ihn anlog. » Ricardo Ortiz musste doch wissen, dass der Mord an Hector ihm ganz schön Stress bringen würde. Er war ja bereits seinem Vater in den Rücken gefallen, indem
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