Harter Schnitt
distanzierte, war Jeremys Vater gewesen, als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei.
Vielleicht täuschte sich Faith aber auch in Will. Vielleicht konnte sie in ihrem Partner nicht besser lesen, als er in einem Buch lesen konnte. Das Einzige, was Faith beschwören konnte, war Wills unheimliche Fähigkeit, emotionales Verhalten bei anderen zu verstehen. Faith vermutete, das kam daher, weil er in einem Waisenhaus aufgewachsen war und sehr schnell hatte entscheiden müssen, ob sein Gegenüber ein Freund oder ein Feind war. Er war ein Meister darin, Fakten noch aus den subtilsten Hinweisen, die normale Menschen eher ignorierten, zu destillieren. Sie wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis Will herausfand, was mit Evelyn vor all diesen Jahren passiert war. Faith selbst hatte es erst heute Morgen herausgefunden, als sie, vielleicht zum letzten Mal, Jeremys Sachen durchging.
Natürlich konnte sie es nicht völlig Wills investigativer Telepathie überlassen. Faith hatte, wie immer ein Kontrollfreak, einen Brief geschrieben, in dem sie skizzierte, was passiert war und warum. Von der letzten Bank aus, die sie besucht hatte, hatte sie ihn an Wills Adresse geschickt. Die Polizei von Atlanta würde sich die Videos auf Jeremys iPhone ansehen, aber Will würde ihnen nie sagen, was Faith in dem Brief geschrieben hatte.
Denn auf eines vertraute sie hundertprozentig: Will konnte ein Geheimnis bewahren.
Faith verbannte den Brief aus ihren Gedanken, als sie durch die Haustür ging. Sie hörte auch auf, an ihre Mutter, Jeremy, Emma und Zeke zu denken– sie verdrängte alles, was ihren Verstand trüben könnte. Sie war bis an die Zähne bewaffnet. In der Reisetasche lag, versteckt unter dem Geld, ein Küchenmesser. Zekes Walther steckte vorn in ihrem Hosenbund. Sie trug ein Knöchelhalfter mit einer von Amandas Reserve-Smith&Wesson an ihrer Haut. Das Metall scheuerte. Die Waffe fühlte sich auf eine Art klobig an, dass sie sich konzentrieren musste, um nicht zu humpeln.
Faith ging am Mini vorbei. Sie weigerte sich, mit ihrem Auto zum Haus ihrer Mutter zu fahren. Das wäre zu sehr wie all die anderen, normalen Tage, an denen sie Emma und ihre Sachen ins Auto gepackt hatte und die eineinhalb Blocks zum Haus ihrer Mutter gefahren war. Wenigstens eine Sache wollte sie heute selbst entscheiden.
Am Ende der Einfahrt ging sie nach links und dann nach rechts zum Haus ihrer Mutter. Sie musterte das lange Straßenstück. Autos standen in Carports oder Garagen. Auf den vorderen Veranden war kein Mensch zu sehen, aber das war kaum ungewöhnlich. In diesem Viertel hielt man sich eher auf den hinteren Veranden auf. Die Leute kümmerten sich größtenteils nur um ihre eigenen Angelegenheiten.
Zumindest taten sie das jetzt.
Rechts von ihr stand ein Posttransporter. Die Botin stieg aus, als Faith vorüberging. Faith erkannte die Frau nicht– ein in die Jahre gekommenes Hippie-Mädchen mit grau meliertem Pferdeschwanz, der ihr über den Rücken hing. Die Haare schwangen hin und her, als sie zu Mr. Cables Briefkasten ging und einen Packen Dessous-Werbung hineinsteckte.
Faith nahm die Tasche in die andere Hand, als sie nach links in die Straße ihrer Mutter einbog. Die Leinentasche mit dem Geld darin war schwer, insgesamt deutlich über sechs Kilo. Das Geld war in sechs Bündel unterteilt, alles Hundertdollarscheine. Sie hatten sich für 580 000 Dollar entschieden, weil das der Betrag war, den Amanda aus der Asservatenkammer beschaffen konnte. Es schien aber auch ein glaubwürdiger Betrag zu sein, wenn Evelyn in die Korruption verwickelt gewesen war, die ihrer Truppe den Garaus gemacht hatte.
Aber sie war nicht in die Korruption verwickelt gewesen. Faith hatte nie an der Unschuld ihrer Mutter gezweifelt, deshalb hatte Amandas Bestätigung ihr nicht viel gebracht. Sie hatte gespürt, dass hinter der Geschichte mehr steckte. Es hatte andere Dinge gegeben, in die ihre Mutter verwickelt war, die ebenso zu verurteilen waren, aber Faith, immer das verwöhnte Kind, hatte so lange die Augen geschlossen, dass ein Teil von ihr die Wahrheit gar nicht mehr glauben konnte.
Evelyn hatte diese Art von Verdrängung » freiwillige Blindheit« genannt. Normalerweise beschrieb sie damit eine spezielle Art der Idiotie– eine Mutter, die darauf bestand, dass ihr Sohn eine zweite Chance verdient habe, obwohl er schon zweimal wegen Vergewaltigung verurteilt worden war. Ein Mann, der beharrlich behauptete, Prostitution sei ein Verbrechen ohne Opfer. Polizisten, die
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