Harter Schnitt
letzten vierunddreißig Jahre herauf. Sie hatte ihre Mutter geliebt. Sie hatte mit ihr gestritten, sie angeschrien, sie belogen, in ihren Armen geweint. Sie war vor ihr davongelaufen und zu ihr zurückgekehrt. Und jetzt das hier.
Der junge Mann aus dem Lebensmittelladen lehnte an den Bücherregalen auf der anderen Seite des Zimmers. Sein Sichtfeld war ideal, er stand an der Spitze eines Dreiecks. Evelyn saß links vor ihm. Faith war fünf Meter von ihrer Mutter entfernt und bildete den zweiten Basiswinkel. Er stand im Schatten, aber die Waffe in seiner Hand war deutlich zu sehen. Der Lauf der Tec-9 war auf Evelyn gerichtet. Das Fünfzig-Schuss-Magazin ragte unten heraus. In seiner Jackentasche hatte er noch mehr Magazine.
Faith ließ die Tasche auf den Boden fallen. Ihre Hand wollte zur Walther schnellen. Am liebsten hätte sie ihm das ganze Magazin in die Brust gejagt. Sie würde nicht auf den Kopf zielen. Sie wollte seine Augen sehen, seine Schreie hören, während die Kugeln ihn zerfetzten.
» Ich weiß, was du denkst.« Er grinste, und sein Platinzahn reflektierte das wenige Licht im Zimmer. » ›Kann ich meine Waffe ziehen, bevor er abdrückt?‹«
Sie antwortete: » Nein.« Faith konnte schnell ziehen, aber die Tec-9 zielte bereits auf den Kopf ihrer Mutter. Keine Chance.
» Schnapp dir ihre Waffe.«
Sie spürte das kalte Metall einer Mündung an ihrem Kopf. Jemand war hinter ihr. Ein anderer Mann. Er riss ihr die Walther aus dem Bund ihrer Jeans und griff dann nach der Tasche. Der Reißverschluss platzte auf. Sein Lachen war wie das eines Kinds an Weihnachten. » Scheiße, Mann, schau dir das ganze Grün an.« Auf den Fußballen wippend, ging er zu seinem Freund. » Verdammt, Bruder! Wir sind reich.« Er warf die Walther in die Tasche. Seine Glock steckte hinten in seiner Hose. » Verdammt!«, wiederholte er und warf Evelyn die Tasche zu. » Siehst du das, du blöde Kuh? Wie gefällt dir das? Jetzt haben wir es trotzdem gekriegt.«
Faith ließ den Jungen aus dem Lebensmittelladen nicht aus den Augen. Er schien nicht so glücklich zu sein wie sein Partner, aber das war zu erwarten. Hier war es nie um Geld gegangen. Will hatte es schon vor Stunden gesagt.
Der Mann fragte Faith: » Wie viel ist da drin?«
» Über eine halbe Million«, erwiderte sie.
Er pfiff leise. » Hast du das gehört, Ev? Da hast du aber eine ganze Menge Kohle gestohlen.«
» Genau.« Sein Partner blätterte ein Bündel auf. » Du hättest die Sache schon vor zwei Tagen beenden können, du blöde Kuh. Ich schätze, man nennt dich aus einem ganz bestimmten Grund Almeja .«
Faith konnte ihre Mutter nicht anschauen. » Nehmt es«, sagte sie zu dem Mann. » Das war die Abmachung. Nehmt das Geld und verschwindet.«
Sein Freund hätte das am liebsten sofort getan. Er warf die Tasche neben Evelyns Sessel und hob eine Rolle Isolierband vom Boden auf. » Ja, Mann, lass uns direkt nach Buckhead fahren. Ich besorg mir einen Jaguar und…«
In schneller Folge knallten zwei Schüsse. Das Isolierband fiel zu Boden und rollte unter Evelyns Sessel, dann brach der Junge neben ihr zusammen. Sein Hinterkopf sah aus, als hätte jemand mit einem Hammer draufgeschlagen. Blut quoll auf den Boden und breitete sich um die Sesselbeine und die Füße von Evelyn aus.
Der junge Mann sagte: » Er hat zu viel gequasselt. Findest du nicht auch?«
Faith’ Herz pochte so laut, dass sie ihre eigene Stimme kaum hören konnte. Der versteckte Revolver in ihrem Knöchelhalfter fühlte sich heiß an, als würde er ihre Haut verbrennen. » Glaubst du wirklich, dass du lebend hier herauskommst?«
Er hielt die Tec-9 weiter auf den Kopf ihrer Mutter gerichtet. » Wie kommst du darauf, dass ich hier raus will?«
Jetzt gestattete sich Faith einen Blick auf ihre Mutter. Schweiß tropfte von Evelyns Gesicht. Der Rand des Isolierbands löste sich von ihrer Wange. Sie hatten sie nicht gefesselt. Ihr gebrochenes Bein war die Garantie dafür, dass sie nicht fliehen konnte. Dennoch saß sie aufrecht im Sessel. Die Schultern straff, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Mutter ließ sich nie gehen. Sie gab nie irgendetwas preis– außer jetzt. Sie hatte den Ausdruck von Angst in den Augen. Keine Angst vor dem Mann mit der Waffe, sondern Angst davor, was ihre Tochter gleich erfahren würde.
» Ich weiß Bescheid«, sagte Faith zu ihrer Mutter. » Es ist okay. Ich weiß es bereits.«
Der Mann drehte die Waffe in die Horizontale und zielte mit zusammengekniffenem Auge an ihrer
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