Hartmut und ich: Roman
er weiter, rannte plötzlich aus dem Raum, wuselte hinten in seinem Zimmer, kam zurückgeschossen, ehe der Kordelvorhang ausgeschwungen hatte, hielt mir ein paar Bücher wie Skatkarten vor die Nase und knallte sie dann nach und nach auf den Tisch. Das effektive Büro , Das 1x1 des Zeit-Managements , Trau dich, reich zu werden! , Die perfekte Bewerbung , Die optimale Ernährung , Positives Denken , soll ich weitermachen!?« Hartmut atmete tief ein. »Das soll alles dein Leben erleichtern, aber in Wirklichkeit macht es dich kirre!«, sagt Hartmut. »Wo du auch bist, ständig fängst du an, dich zu fragen, ob du auch alles richtig machst. Wenn es mal im Büro nicht läuft, dann muss es an dir liegen, denn du hast deinen Arbeitsplatz nicht optimal vereinfacht, und ohnehin ist da schlechtes Feng Shui in deiner Raumecke. Im Supermarkt krümmst du dich vor schlechtem Gewissen, wenn du dein Nutellaglas aus dem Regal nimmst und die Pizza mit den vielen ungesunden Stoffen, und dass du gestern Abend wieder die Zeit mit Fernsehen vertan hast, macht dich wahnsinnig! Hast du etwa nicht Das 1x1 des Zeitmanagements gelesen? An der Kasse beim Bäcker erinnerst du dich, dass du gerade stehen musst, gerade « – Hartmut macht es vor und drückt sich theatralisch wie ein Soldat auf dem Teppich in die Senkrechte –, »und, Scheiße, du hast schon den ganzen Tag vergessen, die tiefe Atmung zu benutzen. Ja, verdammt noch mal! Und dann kommst du nach einem harten langen Tag nach Hause, gehst zum Feierabend ins Fitness-Studio, und egal, was du da machst, du musst es richtig machen, richtig . Denn wie wir alle wissen, und schon Schwarzenegger sagte das in den 70ern – eine einzige Übung, bei der du dich voll auf den Muskel und die Bewegung konzentrierst, ist besser als hundert Übungen, bei denen du in Gedanken woanders bist. Perfekt, perfekt, perfekt muss es sein, und du musst alles bedenken für dein Lebenswohl, alles bedenken, immer bedenken« – Hartmut gerät langsam in Rage, geht ans Fenster und spricht mit dem Gesicht zum Halbmond –, »und wenn du auch nur ein Detail übersiehst« – er springt wieder zu mir und betont das »ein« mit dem fuchtelnden Zeigefinger vor meiner Nase –, »dann bist du selbst dran schuld, wenn dein Leben kacke verläuft, denn du hättest es ja besser machen können, und du wusstest es!« Er knallt mit den Händen zum Abschluss seiner Rede auf den Stapel Selbstmanagement-Literatur und stellt sein stilles, tiefes Atmen an, um den Vortrag nachwirken zu lassen. Ich will ihn fragen, warum er denn diese ganzen Bücher besitzt, wenn sie ihn so aufregen, aber ich verkneife mir dieses Risiko. Hartmut hat die Bücher ein paar Wochen nach dem Weggang von Susanne gekauft. Hartmut hat einen neuen Plan. Jetzt muss man im Sessel sitzen, schweigen und abwarten. Er atmet noch ein paar Mal bedeutsam, richtet sich dann wieder auf und sagt: »Hast du schon mal einen Ratgeber gelesen, in dem stand: Wenn Sie das schwerste Reaktionsspiel der Welt schaffen wollen, müssen Sie einfach wie mein Mitbewohner hier unbewusst drauflosrasen, und es wird dann schon irgendwie klappen? Hast du das jemals gelesen?« Ich schüttele den Kopf. Hartmut hält noch mal kurz inne, starrt mit dem Finger am Kinn an die Wand mit den Postkarten, sagt dann »ich brauche jetzt den Lagerraum« und verschwindet im Ostflügel.
Und so entstand er: Hartmuts kleiner Club für Lebensfreude durch Unperfektheit. Zwei Mal in der Woche treffen sie sich, und die Gruppe wächst stetig. Schon wenige Flyer in den Vorräumen großer Konzernzentralen, Sporthallen und Uni-Flure haben gereicht, und Hartmut hatte den umgebauten Lagerraum voll. Sie bezahlen drei oder acht oder zehn Euro im Monat oder pro Sitzung oder pro Woche. So genau weiß das keiner, denn Hartmut hat nichts festgelegt. Selbst die Kurszeiten beginnen irgendwann dienstags und freitags, wenn halt die ersten am Feierabend eintrudeln, und manchmal gehen die Kurse bis tief in die Nacht und enden darin, dass alle Teilnehmer im Kursraum vor dem kleinen Fernseher auf dem blauen Teppich sitzen, Fusel trinken und unsere Schwertransporterreportagen ansehen.
Heute Abend geht es mit der Enttabuisierung weiter. Hartmut beendet die Yoga-Stunde und holt eine Flasche Ketchup, eine Packung klebrigen Zuckerrübensirup und ein wenig Motoröl aus einem Karton. »So, und jetzt üben wir zu verstehen, dass nichts passiert, wenn wir uns dreckig machen. Die Welt wird nicht untergehen, das Universum nicht implodieren, ihr
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