Hartmut und ich: Roman
stehen, bis alle gegangen waren, und sprach Hartmut strahlend an: »Ach, Hartmut, wissen Sie, jetzt habe ich es!«
»Was hast du?«
»Ein Buch. Eine Idee. Der Durchbruch Ihrer Idee!«
»Der Durchbruch meiner Idee. Wie, was, Moment mal, wer hat denn von Durchbruch …?«
»Ist Ihnen denn nicht klar, was Sie hier erschaffen haben? Die Kunst des Unperfekt-Seins. Das Loslassen-Können. Die Fähigkeit, ein fehlerhaftes Wesen sein zu dürfen und sich unsinnige, ungesunde Pausen zu gönnen. Das ist genau das, was in der Berater-Literatur immer gefehlt hat! Das ist das fehlende Puzzle-Stück im Mosaik perfekter Lebenskunst. Wenn ich das meinen Kunden empfehle, auch das Kind in sich wiederzuentdecken, sich fehlerhafte Tage zu erlauben, einfach draufloszumachen – das weckt Energien, die vorher verschüttet waren.«
Hartmut stand auf der Schwelle des blauen Teppichs und war still. Er hatte schon verstanden, was hier vor sich ging, aber er wollte es noch nicht ganz wahrhaben. Er ließ es geschehen.
»Nun, wie auch immer, Sie sind ein intelligenter Mann, Sie wissen, was Sie da entwickelt haben. Schreiben Sie das Buch mit mir, werden Sie mein Koautor, lassen Sie uns gemeinsam diese Kurse anbieten. Nicht für ein paar zufällige Euro natürlich, sondern dann schon richtig, man muss es ja nicht übertreiben mit der Kohärenz von Inhalt und Form, nicht wahr?« Er klopfte Hartmut unangenehm lachend auf die Schulter. »Überlegen Sie’s sich«, sagte er. »Wenn Sie nicht mitmachen, mache ich es alleine. Es gibt kein Patent auf diese Idee. Geben Sie mir in spätestens zwei Wochen Bescheid. Wenn nicht, fange ich ohne Sie an.«
Hartmut gab nicht Bescheid.
Der Lagerraum steht wieder voll mit unserem Krempel, der Club ist geschlossen. Ein halbes Jahr später erschien bereits das Buch mit dem Titel »Die Kunst, Fehler zu machen – wie Sie durch absichtliches Unperfekt-Sein Lebensfreude und Kompetenzen optimieren!«. Hartmut und ich sitzen oft im Sessel und widmen uns den neuesten schwersten Spielen, die je programmiert wurden. »Jetzt zieh doch einfach durch!«, brülle ich, als er unter derbstem Kreuzfeuer mit seinem Raumschiff immer noch die Spezialfunktion sucht. »Einfach drauflos, ist doch jetzt egal mit der Extrawaffe!«, schreie ich, doch Hartmut manövriert weiter mühsam und sucht derweil nach der Tastenkombination für den Megablast. Er wird abgeschossen. Ich schimpfe: »Mensch, du hättest bloß einfach Augen zu und … «
Hartmut holt tief Luft, sieht mich streng an und sagt ganz langsam und betont: »Ich mache es richtig oder ich mache es gar nicht! Richtig oder gar nicht!« Ich halte die Schnauze, signalisiere mit den Händen, dass er machen kann, was er will, und schaue zu, wie er den Level neu startet.
NOTSTAND
»Im Kleinen muss es anfangen. Hier, in unserer Nachbarschaft.« Hartmut tippt mit dem Finger auf den Wohnzimmertisch und starrt mich an. Ich senke die Fernsehzeitung und weiß, dass harte Tage auf uns zukommen. »Verstehst du nicht?«, fragt er hastig, »die Menschen müssen sich wieder als Gemeinschaft fühlen. Die neue Welt fängt unten an, Mensch! Selbstbestimmung auf regionalster Ebene! Nur unsere paar Straßen, vom Spielplatz hinten bis zur Kreuzung!« Ich atme schwer. Hartmut hat wieder einen Plan. Der Fernseher macht lautlose Flecken an der Wand hinter der Couch. Hartmut fährt fort: »Und wie erreichen wir das?« Ich zucke mit den Schultern und denke an Bananensplit. »Indem wir die Menschen zusammenschweißen! Durch Not!« Hartmut strahlt wie ein Kind, das soeben die Prinzipien der Addition verstanden hat. Der Teppich stinkt. »Denk doch mal an die Flut!«, sagt er. »Du meinst das Hochwasser«, sage ich. »Jaja. Da sind die Leute plötzlich eine Einheit gewesen. Da haben sie sich wieder wahrgenommen.« Ich seufze. Ein Silberfisch versteckt sich unterm Videorecorder. »Mit der Post fange ich an!«, sagt Hartmut und steht ruckartig auf. Mein Blick bleibt auf den Bildern über der Couch hängen, als ich ihn im Flur im Werkzeugkasten wühlen höre. Eine Minute später geht die Haustür, und ich sehe ihn am Fenster vorbei Richtung Postkasten laufen. Zwanzig Minuten später geht wieder die Tür, Hartmut kommt japsend ins Wohnzimmer, hat ein paar schimmernde Regentropfen auf der Jacke und plumpst in die Couch. Sein Blick sagt. »Du hättest mir auch ruhig helfen können!« Er schweigt, nimmt dafür die halb volle Bierflasche, die vor mir steht, trinkt sie aus, atmet, stützt sich wie ein Handwerker
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