Hartmut und ich: Roman
nach Feierabend auf die Knie, steht auf und verschwindet in seinem Zimmer. Nach drei Tagen zeigen seine Aktivitäten erste Wirkungen. Hartmut steht am Fenster und winkt mich herbei. Er deutet mit dem Finger in Richtung Straße und grinst. Ich sehe unsere Nachbarn im Vorgarten von Herrn Häußler versammelt wild gestikulieren. Hartmut stützt sich auf die staubige Fensterbank und genießt. »Und morgen das Wasser«, murmelt er leise.
Als ich am nächsten Abend meinen Hemingway auf die Ablage lege und den Hahn an der Wanne aufdrehe, weiß ich, dass er’s geschafft hat. Wütend schlinge ich ein Handtuch um meine Hüften, stürme ins Wohnzimmer und kann nichts mehr sagen, als Hartmut mit ausgebreiteten Armen, die Beine übereinander geschlagen, auf der Couch sitzt und sagt: »Jetzt fängt es an. Warte nur ab!« Ich muss ihm einen gewissen Respekt zollen. Wenn man das Wasser eines ganzen Viertels kappt, kann man sein Haus nicht ausnehmen. Der Revolutionär wohnt nicht in Palästen. Ich drehe mich um, stelle vier Töpfe auf den Herd und mache mir Badewasser aus Tetrapacks heiß. Nach einer Stunde gebe ich auf. Am fünften Tag gibt es auf den Straßen Tumulte. Die Männer der Stadtwerke sind umringt von Anwohnern und bellenden Frauen; anscheinend hat Hartmut das Wasser so sabotiert, dass nicht mal die herrschenden Handwerker unser Viertel wieder bewässern können. Gen Abend karren Männer Wasser in Kanistern her. Die ersten Häuser an der Ortsteilgrenze haben ihre Gartenschläuche geöffnet, um das Nachbarviertel zu unterstützen. Herr Schober fährt die Behälter mit einem VW-Bus hin und her. Kinder rennen um die Hilfslieferungen herum. Hartmut steht den ganzen Vorabend am Fenster.
Als ich am Samstag die Playstation starten will und der Bildschirm schwarz bleibt, wird mir bewusst, dass Hartmut es ernst meint. Er hat den Strom gekappt. Erst jetzt fällt mir auf, dass selbst die Straße dunkel ist. Früher haben Hartmut und ich bloß Laternen ausgetreten und dazu Lieder der Toten Hosen gesungen. Das waren noch einfache Zeiten. Heute liest Hartmut Marcuse und hört Minimal Music. Hartmut hat den Strom gekappt. Gegen Mitternacht sehen wir Taschenlampen auf den Straßen. Die Nachbarn versammeln sich, und ein Stimmengewirr brummt durch das Dunkel. Es ist fast wie im Stau, wenn man verstanden hat, dass wirklich gar nichts mehr geht. »Warum kommt keine Polizei?«, murmele ich, neben Hartmut gemütlich auf die Fensterbank gelehnt. »Großeinsatz im Norden«, sagt Hartmut, und trotz der Schwärze spüre ich ihn grinsen. »Es gab da so einen Anruf … «
Gegen ein Uhr beginnen die Plünderungen. Lichtkegel von Stablampen. Frau Klein und Herr Schober schlagen mit Latten nach Einbrechern. Im Schuppen von Herrn Häußler herrscht Geschlechtsverkehr. Scheiben gehen zu Bruch. Ich brumme gemächlich, um anzuzeigen, dass ich so was geahnt habe. Um zwei hört man laute Schreie. Schatten huschen über die Straße, ein Mann knallt würgend auf den Asphalt. Halb drei die ersten Schüsse. Um drei Geschützfeuer von hinter der Kreuzung. »Wo haben die die Waffen her?«, frage ich murmelnd und taste im Dunkeln nach den Erdnüssen. Plötzlich steht gegenüber der Dachstuhl in Flammen. Das Licht flackert über unsere Gesichter und die Fensterbank. Ich finde die Erdnüsse. Alte Bäume säumen unsere Straße auf beiden Seiten und strecken sich in der Mitte die Arme entgegen. »Könnte übergreifen«, bemerke ich. Hartmut nippt still an seiner Bierflasche. Dann stößt er sich seufzend von der Fensterbank ab, kramt wieder kurz im Flur herum, zieht sich einen schwarzen Kapuzenpulli an und verschwindet in der Nacht. Um drei Uhr gibt es im Straßenzug wieder Licht. Die Feuerwehr rückt an. Ich gehe ins Bad, probiere am Hebel und lasse mir eine heiße Wanne ein. Als ich lächelnd ins Wasser sinke, geht die Haustür, Schuhe schupfen ins Wohnzimmer, ein Körper plumpst in die Couch, und mit einem leisen, kurzen »Pfump!« springt der Fernseher an.
POEM
Hartmut und ich gehen zu einer Dichterlesung. Ein Freund von uns soll dort auftreten, eher ein Bekannter, ein Studienkollege von Hartmut, den ich nur von Feten in unserer Wohnung kenne, wo er stundenlang vor dem CD-Regal steht und sich die Hüllen ansieht. »Den Gefallen sollten wir ihm tun«, hat Hartmut gesagt. Außerdem werde ein Film gezeigt, Poem von Matthias Schemberg, äußerst wertvoll und wirklich sehenswert, wie Hartmut betonte. Die Veranstaltung findet in einem Kino im Dortmunder Norden
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