Hartmut und ich: Roman
Beschäftigt , weißt du? Ich meine, selbst unsere Punksachen und alles, ich meine, ich habe nie, nie, nie einfach so Musik gehört. Ich höre ja nicht mal Radio. Weißt du, was damals in der Schule mit ein Grund war, dass ich Tina in den Wind geschossen habe?«
Ich sage »Meim«, weil mein Mund voller Kekse ist.
»Sie hat gesagt, was keine Frau sagen darf. Sie hat gesagt, sie höre ›alles‹, aber meistens eben so das, was gerade im Radio läuft. Ich meine, ich bin damals in die Küche gegangen und habe erst mal einen Schluck Strohrum trinken müssen, um mich zu beruhigen.«
»Ich höre Musik auch manchmal nur nebenbei«, sage ich, den Keks runterschluckend. Das Wasser plätschert. Es tropft von den Kacheln. »Ja, aber du bist auch … «
»Was?«, unterbreche ich ihn. »Ein Malocher? Ein Mann? Ein Proletarier?«
»Du weißt, dass es auch kleine Plattenfirmen gibt und mehr Musik als die in den Charts, du liest Musikmagazine in der Wanne, du … ach … «
Hartmut scheint verzweifelt.
Ich nehme ihm die Plattenhülle ab und greife mir noch einen Keks. Ich ziehe das Textblatt heraus, überfliege es, tippe mit dem Finger darauf und sage kauend: »Politische Texte!«
In Hartmuts Augen flattert es kurzzeitig hoffnungsvoll auf, er reißt mir das Blatt aus der Hand, sieht es an, senkt es und schaut doch wieder verzweifelt aus der Wäsche. »Und wenn schon«, sagt er, »das habe ich doch vorher nicht gewusst.« Ich schaue ihn an, wie Frauen ihre Männer ansehen, die sich um das Schicksal ihres Fußballvereins mehr Sorgen machen als um den Krebs ihrer Schwiegermutter, und tauche mit Keksen im Mund unter Wasser ab.
Am nächsten Tag poltert die ganze Zeit Free Jazz aus Hartmuts Zimmer, als müsse er seine Schande wieder gutmachen. Es ist nicht auszuhalten. Ich frage mich, was er dabei macht. Selbst ich kann mir das ja anhören, wenn ich mit der Sekundärliteratur daneben sitze und mir vormache, ich verstünde die Raffinesse dieser Musik. Oder wenn ich mit Jörgen, Steven und Hartmut eine Bong rauche und wir dann wie die Blöden zu John Coltrane oder Cecil Taylor über die Couch hüpfen, Hartmut die runde Papierlampe im Wohnzimmer aus der Fassung reißt und mit dem staubigen Kugelkopf durch das Zimmer hüpft. Aber Free Jazz ist einfach keine Musik für den Alltag. Ich gehe in mein Zimmer, schließe die Tür und kontere mit Manni Breuckmann auf WDR 2. Es ist zwecklos. Am Abend versuche ich, Hartmut zu einer Runde Playstation zu überreden, aber er sagt, er habe keine Zeit. Fiebrig sitzt er auf der Couch im Wohnzimmer und liest ein theoretisches Buch über elektronische Musik. Daneben liegt ein autobiographischer Band zu Bach. Ich schüttele den Kopf und schalte die Playstation an.
Die nächsten Tage bleiben eine Hölle der akustischen Avantgardismen. Hartmut hört Zwölftonmusik von Schönberg, Geräuschmusik von den Neubauten und irgendein elektronisches Gerumpel und Gefiepe, dem ich keinen Namen zuordnen kann.
Er muss The Nightfly exorzieren, ich frage mich, ob er die Platte noch in seinem Zimmer hat. Als das Helikopter-Streichquartett von Stockhausen die Tagesschau im Wohnzimmer locker übertönt, gehe ich aus der Wohnung, knalle die Tür und stapfe zur Pommesbude rüber. Das Getöse bolzt noch bis auf den Bürgersteig, ich blicke hoch in den ersten Stock, Kirsten hat Nachtdienst. Als ich die Pommesbude betrete, tönt mir ganz leise Phil Collins entgegen. Im Fernseher auf der anderen Seite des Schnellimbiss-Tresens, wo die Gaststätte anfängt, läuft irgendeine Gala. Phil spielt, Phil singt, Phil schmeichelt mir die Ohren, wie seine Stimme da so über die Fritteusen und die schwitzigen Körper der Jugoslawen zu mir rübertönt. Einer von ihnen unterbricht meine Konzentration auf den Wohlklang mit seinem typisch zackigen »Bitte?«, das er so intoniert, wie damals seine Wächter im Kriegsgefangenenlager mit ihm gesprochen haben mögen. Eine winzige Frau mit rundem Hut, die hinter mir auf ihre Bestellung wartet, zuckt kurz zusammen. Sie kann das verständige, kumpelhafte Leuchten nicht erkennen, das hinter den schroffen Veteranenaugen steckt. Ich erkenne es. Es ist sein Stammkundenleuchten. Bei ihm habe ich einen Stein im Brett, seit Hartmut und ich damals jeden Tag vom Renovieren rüberkamen, mit Farbe besudelt wie die Affen und absichtlich die Sprache der Malocher sprechend, weil wir sofort erkannten, dass diese tätowierten Pommesfrittierer mit Studenten nicht lange fackeln würden. Gut, nach der Sache mit der
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