Hartmut und ich: Roman
findet die Tür zum Hinterhof geöffnet. Es ist eine Art Balkontür im Erdgeschoss, junge Männer sitzen an Computern und tippen, frische Luft ventiliert durch die Lüftungen der PC-Tower. Hartmut geht ohne Worte in das Büro, stellt sich kurz in der Mitte auf und spricht laut in die Runde: »Nutzen Sie die Chancen des Internets. Bestellen Sie meinen Anti-Stress-Service. Jeden Tag eine beruhigende Mail, die Sie weiterbringt. Ja, bin ich denn schon drin?« Dann nimmt er den Filter aus der Kaffeemaschine der Leute, beißt kräftig hinein, zerfetzt das nasse, braune Papier samt Inhalt und steht inmitten des New-Economy-Büros wie ein Tiger, dem seine braune, feuchtmatschige Beute in Fetzen aus dem Maul hängt. »Jahahahahahaha!«, gackert er jetzt, »jahahahahahahahaha«, rattert es wie ein Maschinengewehr mit hart gesprochenen Hs, »wir brauchen mehr Koffein, mehr Koffein, wer hat gesagt, dass wir schlafen dürfen, wer, wer? Wir haben Prüfung nächste Woche, Prüfung, und 123 Mails sind es noch. 123! Natürlich schreibe ich deine Diplomarbeit, kleines Äffchen, natürlich doch, mein Lieber!« Dann schüttelt er seinen Kopf wie ein Hund, dem kalt ist, und nasse Kaffeefetzen klatschen auf Regale, Schreibtische und Tapeten. Ich stehe in der Tür und höre mein Herz klopfen, ich habe mich noch nie so entrückt gefühlt wie jetzt, die Büromenschen können nichts sagen. Einer bekommt Kaffee in die Haare. Hartmut sinkt in die Knie und sieht sich im Büro um, schmatzt mit dem Mund, als bemerke er erst jetzt, dass er voll Kaffeepulvermatsch ist, sieht mich an und sagt: »Hilf mir … «
Ich deute den Computerleuten, dass alles okay ist, nehme Hartmut beim Arm und gehe mit ihm zum Haus rüber. Dann teile ich ihm mein Zimmer, das Wohnzimmer, die Küche und das kleine Bad zu und sage, dass er diesen Teil der Wohnung in den nächsten Tagen nicht mehr zu verlassen hat. Ich verbiete ihm alle Tätigkeiten außer Essen, Trinken, Schlafen und Playstation-Spielen, sage seinen Prüfungstermin an der Uni ab, verspreche, einen Krankenschein zu besorgen, nehme mir eine Woche frei und beziehe sein Zimmer und den Westflügel. Dann lese ich seine Korrespondenz, studiere die Probleme seiner Klienten, erfinde Textbausteine, rate den meisten, dass sie sich in die Wanne legen, Waldspaziergänge machen, Nein-Sagen lernen und gelegentlich auch mal atmen sollen, scheiße den Studenten zusammen, dass er seine Diplomarbeit ab jetzt alleine zu schreiben hat, da ihn ohne die Fähigkeit zu selbständigem Arbeiten eh nie jemand einstellen wird, und bin nach vier Tagen mit den Kunden durch. Hartmut hat derweil den Kühlschrank leer gegessen, die Weinreste getrunken, acht Spiele geknackt und ganze Tage in meinem Bett verschlafen. Als ich ihm von den Textbausteinen und dem Zusammenscheißen des Studenten erzähle, nickt er und sagt, er werde fortan nur noch fünf Kunden gleichzeitig betreuen und dafür die Preise heben. Schließlich studiere er noch. Ich schreibe einen entsprechenden Passus und füge ihn als Nachtrag in die Homepage ein. Ich komme jedes Mal ins Netz. Bei mir steht die Verbindung ohne Probleme. Ich weiß nicht, warum. Am Wochenende lasse ich Badewasser ein.
YANNICK
für DJ
Jetzt ist es also so weit, wir haben einen neuen Mitbewohner.
Yannick.
Yannick kommt aus dem Heim, und die Frau dort hat gleich gesagt, er sei jung und wild und man müsse sich wirklich überlegen, ob man das wolle, aber das schien Hartmut nur noch angestachelt zu haben. Zugegeben, Yannick ist auf den ersten Blick so süß, dass vor allem Paare ihn immer sofort hätten mitnehmen wollen, aber wenn der Kleine sich dann bei einem Anzeichen erster Berührung bereits mit seinem Eckzahn tief in die Finger der Adoptivmutter gebohrt hatte, entschieden sich die potenziellen Eltern doch gerne um.
Hartmut nicht.
Hartmut hat ein Faible für schwer Erziehbare, und so steht Yannick gerade auf dem kleinen Regal in der Küche neben dem Radio, wirft mit seiner rechten Tatze einen Plastiktopf mit Kunstblumen herunter, schaut ihm nach und macht ein enttäuschtes Gesicht, als das Gesteck nicht auf den Fliesen zersplittert, sondern einfach nur mit einem trockenen »Plopp« auftrifft und ein Stück durch die Küche kullert. Yannick springt hinterher und rollt das Töpfchen wütend und vergnügt in den Flur, durch Hartmuts Beine hinweg, der gerade in die Küche kommt und unserem kleinen Sohn vergnügt nachblickt. »Ich liebe diese Frühaufsteher!«, sagt er, während ich meine Choco Pops
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