Hartmut und ich: Roman
und als er den Kopf wieder rauszieht, sagt er: »Klappstühle und Bier stehen auf dem Balkon, Kassettenrecorder auch. Die Besenkammer ist aufgeräumt, der Decoder bereit.« Sie grinsen sich an und genießen meinen fragenden Blick. »Wart’s nur ab, wart’s nur ab«, sagt Hartmut.
Bis »es« losgeht, trinken wir Kaffee und essen Kuchen aus Fertigpackungen. Ich gehe die Reihen der Filme ab und kann mich kaum davon losreißen. Beyond Enemy Lines, Karate Warrior, Cybertracker, American Fighter, Last Man Standing … in einer kleinen Ecke links unter dem Fernseher finden sich sogar TV-Reportagen über Schwertransporte und Fernfahrer, augenscheinlich direkt beim Sender als bezahlte Kopie bestellt. »Was ist denn mit den Dokus hier?«, rufe ich in die Küche, wo Jochen Hartmut gerade erklärt, wie das Dosenpfand seine Einkünfte rasend gesteigert hat, seit die Kids jetzt alle mit Pfandflaschen zum Konzert gehen und tonnenweise Pfandwert auf den Wiesen liegen lassen. »Die sind für Hartmut!«, ruft Jochen zurück, und Hartmut gibbelt freudig. »Originale???«, frage ich.
»Alles bezahlt!«, sagt Jochen. »Ich weiß so was zu schätzen.« Ich nicke leise. Sie passen wirklich zusammen.
Am späten Mittag – ich lese gerade in ein paar von Jochens fein abgehefteten Interpretationen – höre ich draußen merkwürdige Geräusche. Es klingt ein bisschen wie ein Karnevalszug von ganz weit weg, wie Marschmusik, von der man nur den Rhythmus hören kann.
Hartmut und Jochen sind noch ins Gespräch vertieft. Ich trete auf den Balkon. Zu meinem Erschrecken hat sich auf der Straße einiges getan. Ich hatte ganz vergessen, dass dort unten Barrieren stehen und dass es heute ja noch eine Überraschung geben sollte. Die Barriere ist mittlerweile gut mit Polizei besetzt. Ein untersetzter Mann mit Schnäuzer und erfahrenem Blick spricht in ein Funkgerät und hält Ausschau wie die Vorhut im Krieg. Auf dem Ring hinter der Barriere marschiert eine Demo heran, noch ist kaum was zu erkennen, aber dieser Marschrhythmus kommt deutlich von dort. »Ja geht es denn schon los?«, fragt Jochen jetzt, der plötzlich hinter mir aufgetaucht ist, sodass ich ein wenig zusammenzucke.
»Was geht los?«, frage ich und sehe wieder die Klappstühle und das Bier auf dem Balkon.
»Nazidemo. Jeden dritten Samstag im Monat«, sagt Jochen und beißt noch ein Stück vom Schokokuchen ab.
»Normalerweise müssten mal langsam die Gegner kommen, oder?«, sagt Hartmut, nimmt sich klimpernd ein Bier aus dem Kasten und setzt sich in den Klappstuhl. »Ah, da kommen sie ja«, sagt er. Und tatsächlich: Am anderen Ende der Straßenschlucht platzt plötzlich eine Menschentraube herein. »Die müssen erst mal bei zwei, drei anderen Straßen die Sperren durchbrechen, bis sie es bis hierher schaffen«, sagt Jochen und zieht nun zwei Bier aus dem Kasten, wovon er mir eines reicht und kauend auf den Stuhl neben Hartmut deutet. »Setz dich!«, sagt er. Die Gegendemonstranten rennen in die Straße unter uns, die Polizisten klappen ihre Halfter runter, und die Nazis auf der anderen Seite sind nun nah genug herangekommen, sodass man ihre Fahnen und die ersten Gesichter erkennen kann. Ein paar Meter vor dem eng und diszipliniert gehenden Pulk von Glatzen spazieren ein paar Gestalten in Anzügen und weißen Hemden. Sie tragen in der Tat schmierige Seitenscheitel. Was vorher nur ein stumpfer Rhythmus war, kann man jetzt verstehen. »Hier marschiert der nationale Widerstand!«, brüllen sie, und unter uns fließen immer mehr Gegendemonstranten in die Schlucht. »Erst mal Musik«, sagt Jochen und schiebt eine Kassette in den alten, eiernden Recorder. Ein wenig Gejubel erklingt, und einer dieser kernigen und doch zugleich gebremsten Rock’-n’-Roll-Akkorde, wie man sie auch bei Wetten, dass …? spielen kann. Jochen grinst und hält die Hülle hoch, auf der ein winziges Schildchen mit »0,50 DM« draufklebt. Peter Maffay Live 82. Ich sitze am Samstag im vierten Stock auf dem Balkon eines jungen Mannes, der vom Flaschenpfand lebt und Trashfilme interpretiert, während unten Neonazis und Antifa-Menschen auf eine Polizei-Barriere treffen, und höre Peter Maffay. Was sonst hätte ich von Hartmut erwarten können?
Die Gegendemonstranten sind jetzt an der Barriere angekommen und fangen auch an zu brüllen. »Nazis raus! Nazis raus!«, schreien sie, und ein paar Punks in der ersten Reihe keifen: »Ein Baum, ein Strick, ein Nazi am Genick!«
Peter Maffay singt: »Liebe wird verboten, denn
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