Hasenherz
gute Beine hat. Gerade und schlank, sogar die Schenkel sind schlank. Ja, sie hat gute Beine. Ihre sich verjüngenden, leicht sich regenden Umrisse heben sich weiß ab von dem tief verschatteten Tep pich. Das trübe Licht hebt die blauen Adern hervor, die ihr von der Schwangerschaft noch geblieben sind. Sie denkt, ob ihre Beine wohl auch so schlimm werden wie die ihrer Mutter? Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn die Knöchel genauso dick wären wie die Knie, und ihr ist, als schwöllen sie plötzlich an. Sie beugt sich nach vorn, um sich zu vergewissern, daß die Knöchel noch immer fest und schmal sind, und ihre Schulter stößt dabei das Whiskyglas von der Stuhllehne. Sie springt auf, erschrickt, als plötzlich die kalte Luft ihren nackten Körper umarmt, als kalter, leerer Raum um ihren wackeligen, knotigen Körper spült. Sie kichert. Wenn Harry sie jetzt sähe! Gott sei Dank war nicht mehr so viel drin im Glas. Sie versucht, aufrechten Schrittes in die Küche zu gehen, ohne Kleider am Leib, wie eine Hure, aber das Gefühl, irgend jemand sehe ihr zu, wird immer stärker; vorhin, als sie am Fenster stand und ihre Milch zum Überfließen brachte, hat es angefan gen. So drückt sie sich jetzt leise ins Schlafzimmer und wickelt den blauen Bademantel um sich, und dann mixt sie sich noch einen Whisky. Die Flasche ist erst zu zwei Dritteln geleert. Müdigkeit hängt sich an ihre Lider und macht die Ränder ganz trocken, aber sie hat kein Verlangen danach, wieder ins Bett zu gehen. Sie entsetzt sich vor ihm, weil Harry nicht drinliegt. Daß er nicht da ist – wie ein Loch ist das, es wird immer tiefer, sie gießt ein bißchen Whisky hinein, aber das reicht nicht, und als sie sich zum drittenmal ans Fenster stellt, hat das Licht immerhin schon so viel Kraft gewonnen, daß man sieht, wie grau in grau die Welt ist. Irgendwer hat eine Flasche zerschlagen auf einem der Teerdächer. Die Abflußrinnen der Wilbur Street sind voller Schmutz, der von der neuen Siedlung heruntergeschwommen kommt. Sie sieht hinaus, und unterdessen gehen die Straßenlampen aus, eine nach der andern, in der langen, blassen Lichtkette. Sie stellt sich den Mann im Elektrizitätswerk vor, der an den Hebeln schaltet: klein und grau und buckelig und sehr müde. Sie geht zum Fernsehapparat und schaltet ihn ein, und das Lichtband, das über den grünen rechteckigen Schirm läuft, macht sie sehr fröhlich, aber es ist noch viel zu früh, das Licht ist nur eine sinnlose flimmernde Helligkeit und der Ton ein rein statisches Geräusch. Während sie vor dem Apparat sitzt und aufmerksam dem leeren Flackerschein zusieht, meint sie, irgend jemand stehe hinter ihr, und ein paarmal wirft sie den Kopf herum. Sie ist sehr rasch, aber immer ist da ein Raum, den ihre Augen nicht durchdringen können, und dahinein schlüpft dieser andere immer. Sie hat den Apparat eingeschal tet, natürlich, davon ist er ins Zimmer gelockt worden, aber als sie den Apparat ausschaltet, muß sie furchtbar weinen. Sie sitzt da, das Gesicht in den Händen, die Tränen kriechen zwischen ihren Fingern hervor, und ihr Schluchzen bebt durch die Wohnung. Sie will es nicht dämpfen, sie will, daß einer wach wird, sie hat es satt, allein zu sein. Die Wände und die Möbel treten immer klarer heraus im bleichenden Licht und bekommen ihre Farbe wieder, und die einander verschlingenden braunen Flecke sind jetzt in sie selbst hineingekrochen.
Sie sieht nach dem Baby; das arme Ding liegt da und schnüffelt ins Laken, und die kleinen Hände haben sich in Höhe der Ohren zusammengekrampft; sie streichelt den heißen, hauchdünnwandigen Kopf und hebt Becky heraus, die Beinchen sind ganz naß, und setzt sich mit ihr auf den Sessel, von dem aus man hinaussehen kann, und gibt ihr zu trinken. Der Himmel hat ein blasses, glattes Blau, das aussieht, als sei es auf die Fensterscheiben gestrichen. Man sieht nichts als den Himmel von diesem Sessel aus, sie könnten jetzt meilenhoch in der Luft sein, in der Gondel eines großen Ballons. Eine Tür im Haus kracht zu, und Janices Herz macht einen Sprung, aber natürlich merkt sie gleich, daß es jemand anders war, der mürrische Mr. Cappello vielleicht, der zur Arbeit geht; mißmutig dröhnen die Treppenstufen. Nelson wacht auf davon, und eine Zeitlang hat sie jetzt alle Hände voll zu tun. Sie macht Frühstück für die Kinder, und dabei zerbricht sie ein Saftglas, es schwebt ihr einfach aus den Händen in das starre Spülbecken hinunter. Als sie sich über Nelson
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