Hassbluete
dem frisch gewaschenen Berg im Wäschekorb in der Küche, wo die Waschmaschine stand. Ich öffnete die Badezimmertür nur einen Spalt weit und reichte Mom das Tuch hinein.
Mit nassen Händen griff sie danach. »Danke.«
Ich ging auf den Balkon zurück und biss auch noch den Mund aus Pfirsich vom Joghurttörtchen ab.
Als Mom zurückkam, fläzte sie sich wieder in ihren Balkonstuhl und begann, in einem Modeschmuck-Magazin zu blättern, um sich inspirieren zu lassen.
Es waren noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien und in der nächsten Woche stand nur noch die Englischklausur an. Hoffentlich würde in den Ferien wenigstens etwas passieren, sonst würde ich hier vor Langeweile eingehen. An Urlaub war nicht zu denken. Dafür fehlte einfach das Geld.
Ich seufzte und bemerkte, dass Mom mir von der Seite einen Blick zuwarf. Sie würde mich nicht fragen, was los war, sondern warten, bis ich von alleine erzählte. Aber ich hatte keine Lust. Was gab es auch schon zu diskutieren? Mike würde sie mir auch nicht enträtseln können. Der sollte sich jetzt erst mal auch bei mir entschuldigen. Ich würde jedenfalls keinen Schritt auf ihn zumachen. Außerdem musste er mir erklären, was zwischen ihm und Robin noch gelaufen war. Wenn mit dem überhaupt noch zu reden war. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir es uns mit Robin endgültig verdorben hatten.
Ich stand auf und ging ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung. In mir war so ein seltsames Kribbeln, wie die Ruhe vor dem Sturm .
Mom rief mir hinterher, dass sie gleich noch schnell einkaufen gehen würde, bevor um acht Uhr die Läden zumachten. »Ich kauf dann auch noch mal Joghurttörtchen, die scheinen hier ja alle gerne zu mögen!« Sie hatte es gemerkt und zwinkerte mir über die Rückenlehne des Balkonstuhls zu. Ich verzog das Gesicht zu einem Lächeln und schloss, ohne auf ihren Aufmunterungsversuch einzugehen, die Tür.
Vor der Haustür blies mir ein heißer Wind ins Gesicht. Ich blinzelte in die Sonne. Da vorne lag etwas auf dem Boden. Nicht etwas. Jemand. Ich schluckte. Es war Robin. Er lag mitten auf dem Gehweg. Seine blonden Locken waren wie ein Kranz um seinen Kopf gebettet. Sie schwammen in einem dunklen See, der wuchs und wuchs und immer größer wurde. Blut. Die Gliedmaßen waren merkwürdig abgeknickt, wie bei diesen Holzhampelmännern, die man kleinen Kindern über das Gitterbettchen hängt. Die Augen standen weit offen, der Gesichtsausdruck verzerrt, erfroren mitten im Schreckensmoment.
Ich stand da wie gelähmt. Dann wurde mir schlecht. Bevor ich mich auf die Grasnarbe am Bürgersteigrand erbrach, dachte ich noch: Er musste genau in dem Augenblick von oben heruntergestürzt sein, als ich mit dem Aufzug nach unten fuhr. Sonst wäre er ja direkt bei Mom und mir am Balkon vorbeigeflogen.
Meine Gedanken rasten mit meinem Puls um die Wette.
Ich richtete mich wieder auf und sah, dass jetzt Frau Mitschke neben Robins Körper stand. Die Einkaufstasche war ihr aus der Hand gefallen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie schien genauso erstarrt wie ich noch vor wenigen Minuten und wusste wohl nicht, ob sie sich zu ihm runterbeugen sollte. Wenn sie das mit ihren alten Knochen überhaupt noch konnte. Dann sah sie mich mit flackernden Augen an: »Mein Gott, der Robin!«, schluchzte sie.
Ich hatte auch Hemmungen, ihn zu berühren, zu gucken, ob er noch Puls hatte. Aber das musste man doch. Jemand – ich – irgendjemand musste herausfinden, ob er noch … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er schien so zerbrechlich und ich wollte nicht noch mehr kaputt machen. »Hilfe!«, schrie ich. Ich guckte zu den Balkonen hoch: »Hilfe, Mama! Du musst den Notarzt rufen!« Ich konnte nicht mehr aufhören zu schreien; ich schrie, um nicht nachdenken zu müssen und um die Fragen in meinem Kopf zu übertönen.
Keine Reaktion. Ob Mom mich nicht hörte oder gar nicht mehr auf dem Balkon saß? Wo war seine Mutter?, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte sie doch vorhin noch gesehen!?
Ich sah, dass der Schlüsselbund mit dem Wohnungs- und dem Autoschlüssel halb aus Robins Hosentasche herauslugte und holte mit zitternden Fingern mein Handy hervor, um die 112 zu wählen. Ich wartete nicht ab, als sich jemand meldete: »Den Notarzt bitte, schnell! Ein Freund von mir ist vom Balkon gefallen, achter Stock. Kinderhaus 1. Das Hochhaus, das erste von den beiden. Machen Sie schnell, er ist schwer verletzt!« Dann legte ich wieder auf und sah zu Robin. Konnte er nicht
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