Hassbluete
dämmerte endgültig weg und kriegte von der Ankunft im Krankenhaus nichts mit.
Mike wurde gleich auf die Intensivstation gebracht, aber ich natürlich nicht, da ich ja nicht so schwer verletzt war, sondern eigentlich nur ein bisschen Kreislaufprobleme hatte. Mom erzählte mir das alles erst hinterher, als ich in ein normales Krankenzimmer verlegt worden war. Alles davor war für mich wie im Nebel.
In dieses Krankenzimmer kamen irgendwann auch noch zwei Polizisten, die mich noch einmal fragten, ob ich gesehen hätte, was passiert war? Ich schüttelte benommen den Kopf. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und den Eindruck, dass alles in meinem Kopf durcheinandergeraten war. Ich hörte sie leise weiter mit Mom sprechen und versuchte, mich zu konzentrieren, um mitzubekommen, worüber.
»Das ist doch schon der zweite Sturz innerhalb von zwei Tagen in dieser Gegend«, sagte der eine. Er klang sehr jung. Fast so jung wie Mike.
Als ich einige Zeit später richtig wach wurde und auch die Augen aufschlagen konnte, sah ich, dass Mom neben mir saß und meine Hand hielt.
»Ach, Michelle«, sagte sie, als ich meine Augen kurz öffnete. »Was musst du alles durchmachen. Wie geht es dir?«
Ich wusste zuerst nicht, wo ich war, sah mich um. Doch dann kam die Erinnerung tröpfchenweise zurück, wie die Flüssigkeit im Tropf, der an meinem Bett befestigt war und zu meinem Arm führte.
»Ich bin müde«, sagte ich. Und schon fielen mir die Augen wieder zu.
Beim nächsten Mal saß der junge Polizist neben meiner Mutter und zeigte mir einen Brief. Er trug durchsichtige Handschuhe und ich durfte das Papier nicht anfassen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ich runzelte irritiert die Stirn, denn der Brief kam mir bekannt vor – das war Robins Brief. Ich wollte gerade etwas sagen, da kam auch schon der zweite Polizist dazu: »Den haben wir in der Hosentasche des Opfers gefunden.«
Mike hatte Robins Brief dabeigehabt.
Warum?
Meine Mutter spendierte uns in der Morgendämmerung ein Taxi, das uns nach Hause fuhr. »Auf ihre Verantwortung«, hatte der Oberarzt gesagt. Ich hätte noch bleiben sollen, aber ich wollte unbedingt nach Hause. Mom setzte sich neben mich auf die Rückbank und sagte die ganze Fahrt über aber nichts. Janni und Daniel versuchten abwechselnd, mich auf dem Handy zu erreichen. Nach ein paar Anrufen schaltete ich das Handy aus, ich konnte einfach nicht mehr.
Mike war ins Koma gefallen, und wenn er jemals wieder aufwachen würde, dann in keinem guten Zustand, hatte die Stationsschwester zu meiner Mutter gesagt, die sie irrtümlich für Mikes Mutter gehalten hatte. Die Saalfelds hatten sich, nachdem ich bei ihnen aufgetaucht war, ins Auto gesetzt und die Gegend nach Mike abgesucht. Sie waren gerade an der U-Bahn-Station angekommen, als wir Mike gefunden hatten. Mom hatte erst im Krankenwagen daran gedacht, sie zu informieren, und sie waren dann etwas später in der Klinik aufgetaucht. Evelyn war vollkommen aufgelöst. Aber es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis die Untersuchungen und die Not-OP abgeschlossen waren und man die beiden zu ihrem Sohn gelassen hatte.
Meine Mutter griff nach meiner Hand und sah mich an: »Du kannst mit mir über alles reden, Michelle«, sagte sie. Ich nickte und lächelte ihr mühsam zu.
Und dann brach es plötzlich aus ihr heraus: »Aber tu mir das bitte nicht an!«
Was denn?
»Was denn!?«, sagte ich.
»Hast du Sorgen, Probleme? Quält dich irgendwas?«, fragte sie besorgt.
Sie hatte Angst, dass ich die Nächste sein könnte. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Ich käm nie auf die Idee …« Ich brach ab.
Meine Mutter schnäuzte in ein Papiertaschentuch. »Ich will nur nicht, dass du auch … Ich will dich doch nicht auch noch … ach …«, sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und ich streichelte ihr sachte über den Arm.
»Ich bring mich doch nicht um, Mom«, sagte ich und musste jetzt fast lachen, dass meine Mutter mir das zutraute. »Und wer sagt denn, dass es wirklich Selbstmord war bei Mike. Und Robin!?«
»Zwei Unfälle so kurz hintereinander? Und dann hat der Zweite den Abschiedsbrief vom Ersten? Da stimmt doch was nicht!?«
»Stimmt«, sagte ich kleinlaut. Der Versuch, meiner Mutter ihre Sorgen und Bedenken zu nehmen, war damit leider fehlgeschlagen.
»Wir müssen aufs Polizeipräsidium kommen, sobald du wieder fit bist, hat der Polizeibeamte gesagt. Fürs Protokoll.«
»Ich hab nichts damit zu tun«, wehrte ich mich, zog die Knie hoch und
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