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Hassbluete

Hassbluete

Titel: Hassbluete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agnes Kottmann
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stemmte sie gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes.
    »Das sagt doch keiner«, beruhigte mich meine Mutter. »Die Polizei muss alle Zeugen befragen und will nur auf Nummer sicher gehen, dass niemand nachgeholfen hat.«
    »Wie nachgeholfen?«
    »Man zweifelt daran, dass der Abschiedsbrief von Robin wirklich echt ist. Möglichweise hat ihn jemand anderes geschrieben und ihn nachträglich irgendwo platziert.«
    »Und wenn Robin den Text aus dem Internet abgeschrieben hat? Da findet man so etwas mit Sicherheit in irgendwelchen verrückten Foren und Blogs.«
    Mom seufzte: »Auf jeden Fall hast du nichts zu befürchten.«
    Zu Hause stöpselten wir das Festnetztelefon aus und guckten uns eine DVD mit Johnny Depp an: Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa . Einer der Lieblingsfilme meiner Mutter, den ich mir nur wegen Johnny Depp anguckte. Ich konnte mich kaum auf den Film konzentrieren, meine Gedanken wanderten immer wieder zu Mike. Wie es ihm wohl ging? Ob er Schmerzen hatte? Ob er irgendetwas spüren oder hören konnte?
    Seine Eltern würden uns sofort Bescheid geben, wenn sie was Genaues wussten. Selbst anrufen wollte ich nicht. Die waren mit den Nerven sicher völlig am Ende.
    Ich fand Johnny Depp wirklich supersüß und in diesem Film war er noch total jung. Leonardo di Caprio war sogar noch ein Kind und spielte einen geistig behinderten, verrückten Jungen.
    Ob Mike auch so enden würde? Nicht nur mit körperlichen, sondern auch mit geistigen Schäden? Würde ich mich je wieder so mit ihm unterhalten können wie zuvor? Würde ich ihn jemals wieder küssen können?
    Die Stationsschwester hatte auch noch gemeint, dass er sich aufgrund des schweren Schädel-Hirn-Traumas wahrscheinlich an nichts oder nur sehr wenig würde erinnern können. Ob er mich dann überhaupt noch erkennen konnte? Es war so wichtig, dass er erzählte, was genau passiert war.
    Irgendwann fielen mir doch die Augen zu und ich träumte, was morgen ungefähr in der Zeitung stehen würde: Robin hatte sich meinetwegen vom Balkon gestürzt, weil er unglücklich in mich verliebt gewesen war. Mike aber hatte geglaubt, es sei alles seine Schuld, weil Robin wegen ihm beinahe in der Berkel ertrunken war. Und als Eingeständnis seiner Schuld hat er sich mit Robins Abschiedsbrief in die Tiefe gestürzt. Aus schlechtem Gewissen und um für seine Tat zu büßen und weil ein Leben ohne meine Liebe keinen Sinn für ihn machte. Mike hatte ja mal gemeint, dass eine unglückliche Liebe auch eine Art seelische Folter war. Also passte der Brief irgendwie doch auch auf mich. Das Monster war ich.
    Ich sah den Brieftext in großen fließenden Buchstaben vor mir, allerdings wechselte von Zeile zu Zeile die Handschrift, einmal war es die von Robin, dann die von Mike, als hätten sie den Brief zusammen verfasst – aber es war ein anderer als der, den ich gelesen hatte.
    Mike : »Es ist nicht Michelles Schuld, sie kann doch nicht jemanden lieben, nur damit der sich nicht umbringt.« Robin: »Aber wie hätte sie reagiert, wenn sie gewusst hätte, dass ich so weit gehen würde?« Mike: »Wir müssen doch füreinander da sein und aufeinander aufpassen.« Robin: »Jetzt pass ich von ganz oben auf Michelle auf.«
    »Wir müssen doch füreinander da sein und aufeinander aufpassen!«, echoten jetzt die beiden Stimmen von Robin und Mike.
    »Achte auf die Delfine, die Sanften, die Fröhlichen! Alle anderen Wassertiere sind Haie«, sagte Robin.
    »Michelle, pass auf!
    Michelle, pass auf!
    Michelle, pass auf!«
    Mike sagte es immer wieder, während er von einer großen Wolke auf die Erde runterstürzte. Im Flug wuchsen ihm kleine Flügel und er fing an, heftig mit ihnen zu schlagen. Aber er schaffte es nicht, dadurch wieder an Höhe zu gewinnen. Er konnte nur den Aufprall etwas abfedern. Unten schlug er auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen. Die beiden Flügel lösten sich sofort in Luft auf. Doch von oben flüsterte jemand, und die Worte kamen den langen Himmelsweg entlang bis an mein Ohr: »Ich bin Tsunami.«
    Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, verschwitzt und mit keuchendem Atem. Im nächsten Moment war ich so erleichtert, dass wenigstens dies nur ein Traum gewesen war. Meine Mutter hatte mich samt meiner Klamotten ins Bett gepackt. Draußen war es schon früher Abend, aber ich hatte keine Lust, auf die Uhr zu sehen. Welcher Tag war heute? Wie lange hatte ich geschlafen? Ich wusste es nicht.
    Ich wollte nichts hören, keine Fragen beantworten. Ich wollte wieder einschlafen und

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