Hastings House
Abend, als das Telefon klingelte, doch Leslie schlief noch nicht. Und seltsamerweise wusste sie bereits, bevor sie den Hörer abnahm, wer dran sein würde.
“Hi, Nikki.”
“Du wirst ja immer besser.”
“Das hat nichts mit Intuition oder irgendeiner besonderen Gabe zu tun”, gab Leslie lachend zurück. “Es ist zwar spät, aber wir waren in den Nachrichten, und ich wusste, wenn mich um diese Zeit noch jemand anruft, dann kannst nur du das sein.”
“Wie geht es dir?”
“Bestens. Ich konnte einigen Leuten helfen, mit sich und ihrer Welt Frieden zu schließen, wenn auch auf eine seltsame Art.”
“Das ist gut”, sagte Nikki.
Leslie sah Nikki deutlich vor sich, wie sie zu Hause saß und telefonierte. Die schlanke und lebenslustige Nikki mit ihren leuchtend blaugrünen Augen. Sie machte Führungen durch New Orleans und liebte das Thema Geschichte. Und sie liebte ihre Stadt und arbeitete intensiv daran, wieder Touristen nach New Orleans zu holen. Aber sie und Brent hatten sich dennoch die Zeit genommen, um Leslie zu helfen, damit die sich an ein Leben gewöhnen konnte, in dem immer wieder Tote auf sie zukamen und sie um Hilfe baten. Was ihr zunächst wie ein Fluch erschienen war, hatte sich dank des Rückhalts von Nikki und Brent zu einer Gabe entwickelt.
“Und wie läuft es bei euch?”, wollte Leslie wissen.
“Wir kommen weiter, wenn auch nur in kleinen Schritten. So viele Stadtviertel müssen komplett wieder aufgebaut werden, aber wir werden das schon schaffen. Und bei dir? Alles in Ordnung?”
“Oh ja. Ich glaube, den Reverend haben wir jetzt wohl das letzte Mal gesehen.”
“Ah, gut. Dann geht es jetzt an die Feinarbeit? Meine Geschichte ist viel einfacher, ich muss nur darüber reden. Aber du verbringst Stunden damit, sie auszugraben.”
Leslie wunderte sich, wieso sie das Gefühl gehabt hatte, Nikki wisse längst, was sie vorhatte. “Ehrlich gesagt kehre ich nach Hause zurück.”
“Nach Hause?”
“Nach New York. Ich bin zwar im Süden geboren, aber New York ist trotzdem seit langer Zeit mein Zuhause. Es gibt da ein neues Projekt, ein Gelände in der Nähe von … von Hastings House, und da werde ich als Nächstes arbeiten.”
“Fühlst du dich dafür bereit?”, fragte Nikki geradeheraus.
“Ja … nein … ich weiß nicht.”
“Und nun?”
“Ich weiß nicht, ob ich jemals dafür bereit sein werde. Ich glaube, ich muss es einfach machen.”
Sekundenlang herrschte Stille, und sie wusste, dass Nikki sehr gründlich abwägte, was sie entgegnen sollte. “Leslie, du weißt, wir nehmen gewisse Dinge als gegeben hin, und wir haben auch gelernt, unsere Fähigkeiten in einem bestimmten Maß zu beherrschen. Aber wir kennen nicht alle Antworten. Du bist immer noch verwundbar, ob du das nun glaubst oder nicht. Also pass gut auf dich auf. Und verlier dich nicht in der Vergangenheit und in den Dingen, die einmal waren. Du bist hier, und du lebst.”
“Nikki, ich habe euch beiden zu verdanken, dass ich noch bei Verstand bin und dass ich das Leben zu schätzen weiß. Es ist nur so … du weißt, wie es ist, wenn man jemanden verliert. Es gibt so viele Dinge, die man noch sagen wollte. Und man will wissen, ob mit demjenigen alles in Ordnung ist, was natürlich nicht der Fall sein kann, weil er ja tot ist … okay, ich klinge jetzt wohl ein wenig so wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat, aber ich wünschte, ich hätte mich von ihm verabschieden können, weißt du?”
“Du kannst nicht davon ausgehen, dass du diese Chance wirklich bekommst, Leslie, selbst wenn du dorthin zurückkehrst. Matt Connolly war ein außergewöhnlicher Mann, der in seiner Zeit viel Gutes getan hat. Es könnte sein, dass du ihn niemals sehen wirst.”
“Ich weiß. Ich verspreche dir, ich gehe nicht aus dem Grund zurück, weil ich davon überzeugt wäre, dass ich ihn zu Gesicht bekomme. Aber ich kann und will nicht noch länger vor allem davonlaufen. Das ist jetzt für mich die Gelegenheit, um heimzukehren.”
“Soll ich in die nächste Maschine steigen und raufkommen?”
Leslie lächelte darüber, wie sonderbar doch manche Dinge waren. Bis zu Matts Tod hatte sie viele Freunde gehabt, durchweg nette Menschen, doch nach dem Unglück begann sie, zu ihnen auf Abstand zu gehen. Sie hoffte, dass ihr das gelungen war, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Es war einfach so, dass sie niemanden mit ihrer Trauer belasten wollte. Außerdem mochte sie es nicht, wenn die Menschen sie wie ein rohes Ei behandelten
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