Hastings House
– Touristen mit einem Reiseführer in der Hand. Joe überlegte, ob er sie warnen sollte, dass es keine gute Idee war, um diese Uhrzeit noch durch New York zu spazieren, ließ es dann aber bleiben.
Ein paar Teenager gingen am Haus vorbei, dann ein Paar mit zwei Kindern, die beide um zehn Jahre alt sein mussten. Ebenfalls Touristen.
“Ist das ein Spukhaus?”, fragte der Junge.
“Kann schon sein”, antwortete der Vater. “Während des Freiheitskrieges trafen sich hier die Patrioten, und auch während des Krieges von 1812 kamen die politisch Gleichgesinnten hierher. Im Bürgerkrieg war das Haus sogar ein Treffpunkt der Underground Railroad. Da könnten noch viele Leute herumspuken”, meinte er mit einem Augenzwinkern.
Seine Frau stieß ihn an. “Erzähl ihm doch nicht solche Sachen, Herbert”, sagte sie in ernstem Tonfall, dann fuhr sie flüsternd fort: “Hier sind erst letztes Jahr Menschen gestorben.”
Der Vater seufzte. “Marina, wir sehen uns New York an. Können die Kinder nicht ein bisschen Spaß haben, wenn sie etwas lernen?”
“Das nennst du Spaß?”, fragte sie kühl.
Wieder seufzte er. “Ja, schon gut. Tut mir leid.”
Joe konnte nicht anders und sprach die Familie an: “Guten Abend. Es ist schon ziemlich spät. Um die Zeit sind kaum noch Geschäfte geöffnet. Eigentlich hat überhaupt nichts mehr offen, bis auf die Bars.”
Der Vater wollte sich gleich ereifern, doch seine Frau stimmte Joe zu, auch wenn sie ihn ein wenig argwöhnisch ansah. “Ja, wir sollten uns auf den Weg zurück ins Hotel machen.”
“Wir sind mit den Kindern nur zwei Tage hier”, wandte der Vater ein.
“Wenn Sie sich umsehen, werden Sie bemerken, dass die Straße so gut wie menschenleer ist”, sagte Joe höflich.
“Sind Sie ein Polizist?”, wollte die Frau wissen.
“Ich war mal einer.”
“Ich habe in der Zeitung gelesen, dass hier in der Gegend immer wieder Frauen spurlos verschwinden sollen”, meinte sie.
“Sind wir etwa Prostituierte?”, zischte ihr Mann sie an.
“Ich will zurück ins Hotel”, erklärte sie.
Sie gingen weiter und schauten sich alle paar Schritte um, ob ihnen jemand folgte.
“Nehmen Sie sich ein Taxi”, rief Joe ihnen nach. “Die am Ende des Blocks fahren nach Norden.”
Dann verdrängte er jeden Gedanken an das Haus und ging in die entgegengesetzte Richtung weiter, wobei er mit den Schultern zuckte, als könne er so alle Gefühle abschütteln, die ihn beim Anblick des Hastings House überfallen hatten.
Wie seltsam. Es kam ihm fast so vor, als würde das Haus selbst ihn zu sich rufen.
Als wollte irgendeine Kraft in diesem Haus ihn nicht fortgehen lassen.
Er presste die Lippen zusammen und ging weiter. Nein, er würde sich nicht irgendwelchen Hirngespinsten hingeben. Die Realität war schon grausam genug.
Dennoch blieb er nach der Hälfte des Blocks stehen und drehte sich zum Haus um. Wütend über seine Reaktion wandte er sich ab und ging wieder los.
Ein Haus war einfach nicht fähig, nach einem zu rufen – bei einem Haus handelte es sich nicht um einen Menschen, der um Hilfe flehen konnte …
3. KAPITEL
D er Abend dämmerte bereits, als sie am Hastings House ankamen. Links davon befanden sich eine riesige Baugrube und ein bereits teilweise zusammengebrochener kleiner Wolkenkratzer, der abgerissen wurde, um einem größeren Bauwerk Platz zu machen. Downtown erlebte tatsächlich eine neue Blüte.
Rechts vom Hastings House – neben einer schmalen Rasenfläche, die der einzige noch existierende Beweis dafür war, dass es hier früher einmal viele kleine Grundstücke gegeben hatte – erhob sich ein Büro- und Apartmentkomplex aus den Vierzigerjahren. Wenn Leslie sich ausschließlich auf diesen kleinen Punkt vor ihr konzentrierte und alles andere ringsherum ignorierte, dann konnte sie eine Vorstellung davon bekommen, wie es hier früher einmal ausgesehen hatte.
Doch dann hörte sie wütendes Hupen, dröhnende Rapmusik, das laute Klappern von hohen Absätzen auf dem Fußweg. Oh ja, sie war mitten in New York. Selbst an einem gemächlichen Sonntagnachmittag war dies ein Stück Granitfelsen, auf dem unendlich viele Menschen leben wollten. Es war für viele von ihnen der Mittelpunkt des Universums. Leslie musste lächeln. Trotz Sünden, Dreck und ihrer einzigartigen Mischung aus Gut und Böse liebte sie diese Stadt über alles.
Und es war schön, wieder hier zu sein.
“Hey”, rief der Taxifahrer und riss sie aus ihren Gedanken. Angesichts dieser einen Silbe
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