Hastings House
Beinen.
“Hallo?”, versuchte sie es noch einmal.
“Auch hallo, Lady.”
Erschreckt wirbelte sie herum und sah vor sich einen verdreckten, zahnlosen und langhaarigen Penner, der sie breit angrinste. “Ich wollte sagen: ‘Auch hallo,
Honey.
’“
Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und zwang sich, weder angewidert die Nase zu rümpfen noch entsetzt zu schreien. “Ähm … hi”, sagte sie, und dann: “Bye.”
Daraufhin ergriff sie die Flucht, verriegelte das Tor hinter sich und lief zurück ins Haus, wo sie die Tür abschloss und gleich wieder den Alarm einschaltete. Sie nahm sich vor, ab sofort vorsichtiger zu sein, wenn sie nicht wollte, dass die Leute sie wirklich noch für verrückt hielten.
Um Punkt neun Uhr saß Joe Connolly im Büro von Genevieves letztem bekannten Arbeitgeber, einem gereizten Griesgram namens Manny Yarborough, der nicht sehr hilfsbereit erschien.
“Es war schon ein Officer hier, und ich kann Ihnen nichts anderes erzählen als ihm. Die Kleine hat gekündigt, ihre Sachen gepackt und ist dann gegangen. Das ist alles.”
“Das ist längst nicht alles. Hat sie gesagt, wohin sie wollte? Hinterließ sie eine Adresse für ihren letzten Gehaltsscheck? Oder wollte sie vorbeikommen und ihn abholen? Und könnte ich mir bitte ihren Arbeitsplatz ansehen?”
“Wissen Sie was, Mister? Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Wir sind hier immer unterbesetzt, und ihretwegen ist es jetzt noch schlimmer. Genevieve hat nichts gesagt. Ich bat sie, nicht einfach von heute auf morgen aufzuhören. Als das nichts half und ich sie darauf hinwies, sie müsse sich an die Regeln halten und eine Kündigungsfrist abwarten, meinte sie nur: ‘Ich muss gar nichts.’ Dann nahm sie ihre Sachen und ging zur Tür raus. Glauben Sie bloß nicht, ich hätte ihren Schreibtisch leer stehen lassen. Kaum war sie weg, hat eine andere Mitarbeiterin den Platz bekommen. Wir brauchen hier jede Fläche, und wir brauchen Hilfe. Das ist New York!”
“Irgendeine Adresse von ihr werden Sie ja wohl in Ihren Unterlagen haben, und den Schreibtisch möchte ich mir trotzdem ansehen”, erklärte Joe entschlossen.
“Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?”
“Wieso? Brauche ich einen? Glauben Sie, das könnte sich zu einem Mordfall entwickeln? Ich sagte schon, ich bin kein Cop. Ich arbeite für Genevieves Familie, eine Familie, die viel Gutes für diese Stadt tut. Ganz sicher ist Ihnen das bekannt. Wie wäre es also mit ein wenig Entgegenkommen?”
Der Mann sah ihn aufgebracht an. “Ich gebe Ihnen die Telefonnummer und die Adresse, die mir bekannt ist, und Sie können Alice da drüben fragen, ob es ihr etwas ausmacht, wenn Sie sich ihren Schreibtisch ansehen.”
Alice war eine junge Frau, die etwas nervös wirkte, aber einen ausgesprochen netten Eindruck machte, womit sie für diese Art von Job genau die Richtige war. Sie hatte sich ihren Idealismus noch erhalten, was man ihren großen blauen Augen ansehen konnte. Offenbar hatte sie das Gespräch mit angehört – denn sie sprang sofort hilfsbereit auf, als Joe sich ihr näherte. “Ich kann Ihnen einen Kaffee bringen, wenn Sie das möchten. Ich will Ihnen nicht im Weg stehen.” Sie war dünn … und sie erinnerte ein wenig an einen aufgedrehten Terrier.
“Mir wäre es lieber, Sie würden bleiben und mir erklären, was ich hier vor mir sehe”, erwiderte er und lächelte sie beschwichtigend an.
“Gern.”
Manny drehte sich demonstrativ um und ging.
“In der unteren Schublade sind die Akten”, erklärte Alice, nachdem sich Joe an den Schreibtisch gesetzt hatte. “Ich geh sie gern mit Ihnen durch.”
Ihm wurde schnell klar, dass Genevieves Einsatz für die Prostituierten ihre gesamte Arbeitszeit in Beschlag genommen hatte. Interessant war dabei, dass sie sie gar nicht als Prostituierte erfasst, sondern Begriffe wie “In befristeter Anstellung” oder “Möchte sich beruflich verbessern” für sie notiert hatte. Es gab Notizen über sämtliche Kinder dieser Frauen – in den meisten Fällen Säuglinge –, außerdem über die Gerichtsunterlagen, wenn die Fürsorge ihnen ihre Kinder abgenommen und in Pflegefamilien vermittelt hatte. Joe stieß auch auf Didi Dancers Akte. Ihr hatte man das Kind vor sechs Monaten weggenommen. Womöglich hieß sie tatsächlich Dancer mit Nachnamen, denn ihr Kind war als Dianna Dancer eingetragen. In Didis Akte fand sich ein Zettel, der nur mit einer Büroklammer festgemacht war.
Sie hat eine Chance. An die hohen Tiere wenden.
Im
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