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Hastings House

Hastings House

Titel: Hastings House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Graham
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sich gedrückt. Sein Haar war zu einem einzelnen Zopf geflochten. Das Mädchen war sehr dünn, die Knie hatte es ein wenig eingeknickt. Rachitis, dachte Leslie. Sekundenlang betrachtete sie das Mädchen, ehe sie begriff, dass niemand außer ihr es sehen konnte.
    Der Geist eines Kindes.
    Leslie hoffte, dass niemand mitbekam, wie sie flüsterte: “Hallo.”
    Das Mädchen hatte riesige braune Augen und trug ein Kleid aus Kattunstoff und eine makellose Schürze. Es drückte die Puppe noch etwas fester an sich und erwiderte leise: “Hallo. Können Sie mich sehen?”
    “Ja.”
    “Was sagst du, Leslie?”, fragte Brad, der nur ein Stück von ihr entfernt kniete, ihr zum Glück jedoch den Rücken zugewandt hatte.
    “Äh … nichts. Wie kommst du voran?”
    “Ganz gut”, erwiderte er.
    Leslie widmete sich wieder dem Mädchen. “Wie heißt du?”
    “Mary.”
    “Ein schöner Name.”
    “Was?”, fragte Brad abermals.
    “Nichts.”
    “Führst du wieder Selbstgespräche?” Brad seufzte und sah sie über die Schulter an.
    “Ich singe nur vor mich hin.”
    “Na, wenn du das Singen nennst … du weißt ja hoffentlich, dass da kein Mensch eine Melodie heraushören kann.”
    “Danke für den Hinweis. Ich werde um Karaoke-Bars besser einen großen Bogen machen.”
    Brad gab einen gereizten Laut von sich, verdrehte die Augen und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.
    Sie fürchtete, Mary könnte inzwischen verschwunden sein, doch das Mädchen war immer noch da und grinste sie an. “Ich möchte wetten, Sie können gut singen, Miss.”
    “Danke.” Sie zögerte kurz. “Hast du dich … verirrt?”
    “Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist.”
    “War sie krank?”
    Das Mädchen nickte betrübt.
    “Und du? Warst du auch krank?”
    Wieder nickte das Kind. “Ich glaube, meine Mutter ist gestorben. Ich glaube, ich kam mit meinem Vater her, als sie starb. Aber ich kann sie jetzt nicht mehr finden.”
    “Glaubst du, ihr Grab war hier? Hier, wo ich jetzt bin?”
    Das Mädchen deutete auf eine Stelle, nur wenige Meter entfernt.
    “Ich werde sie finden. Wenn ich sie gefunden habe, wird man sie für eine Weile woandershin bringen. Aber … dich werde ich auch finden. Und dann sorge ich dafür, dass ihr beide am Ende nicht länger getrennt sein werdet.” Sie atmete tief durch. “Mary … du weißt, du bist …”
    “Ich bin tot. Ja, das weiß ich. Ich will nur zu meiner Mutter.”
    Obwohl sie wusste, dass sie es mit einem Geist zu tun hatte, lief Leslie ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Sonne schien, es war ein wunderschöner Tag, und sie war froh, dass sie von Menschen umgeben war, von lebenden, atmenden Menschen.
    Brad stand auf und klopfte sich die Hände an seiner Hose ab.
    “Ich glaube, ich mache erst mal da drüben weiter”, sagte sie und deutete auf eine andere Stelle. “Hilfst du mir? Wir werden ziemlich tief graben müssen.”
    “Woher weißt du das?”
    “Eine Vermutung. Mein Instinkt. Ich weiß es nicht, aber ich will es da drüben versuchen.”
    Mit einer Mischung aus Skepsis und Verärgerung sah er sie an und folgte ihr trotzdem.
    Schweigend machten sie sich an die Arbeit. Zwischendurch sah Leslie auf, weil sie dem Mädchen aufmunternd zulächeln wollte, doch der Geist war plötzlich verschwunden.
    Wie lange sie grub, wusste sie nicht, weil sie so sehr in ihre Arbeit vertieft war. Dann, endlich, stieß sie auf Holz.
    “Brad.”
    “Was ist?”
    “Sieh mal.” Sie wischte die Erde ab und hielt ihm das Bruchstück hin. “Von einem Sarg?”, fragte sie leise.
    “Lass uns weitermachen.”
    Minuten später stieß Brad einen heiseren Schrei aus. Er hatte ein Stück gefunden, das groß genug war, um es als Holzbrett zu bezeichnen.
    “Wir sind auf dem richtigen Weg”, murmelte Leslie.
    “Vorsichtig jetzt, ganz vorsichtig … nur noch die Bürsten, egal wie lange es dauert.”
    “Ja, ja, ich weiß”, gab sie zurück. “Wie lange arbeiten wir schon zusammen?”
    Er sah nicht mal auf.
    Leslie entdeckte als Erste einen Knochen. Sie hielten beide inne und schauten sich an.
    “Lass uns noch ein bisschen weitermachen”, flüsterte er.
    Sie nickte, und gemeinsam trugen sie weiter Erde ab. Ihr Rücken schmerzte, doch davon nahm sie kaum etwas wahr. Die Minuten verstrichen, und dann endlich war das Skelett einer Frau freigelegt. Ein paar Stoffreste hatten die Zeit im Grab recht gut überstanden, zudem war da noch das Kreuz, ein schlichtes, winziges Goldkreuz – der ganze Reichtum einer armen

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