Hauch der Verfuehrung
auch, was sie ist und was sie ausmacht.«
Sie hatte die Brauen bei seiner leidenschaftlichen Erklärung in die Höhe gezogen, antwortete aber bloß: »Und auch was sie ist?«
»Genau. In dem fertigen Bild wird zu sehen sein, was Sie sind.«
Sie erwiderte seinen Blick einen Moment, offen einschätzend, dann nickte sie entschieden. »Gut. Das ist genau das, was ich brauche. Was mein Vater braucht.«
Sie drehte sich um und ging weiter. Gerrard schüttelte im Geiste den Kopf, dann folgte er ihr, rang immer noch darum zu begreifen, wie die Situation auf einmal auf den Kopf gestellt worden war. Offenbar war seine Malerei - anders, als er angenommen hatte - in ihren Augen keine Gunst, die er ihr erwies; die Frage schien vielmehr zu sein, ob sie sich dazu herablassen würde, für ihn Modell zu sitzen.
Die Möglichkeit, dass sie dies am Ende wirklich nicht tun würde, zwang ihn, vorsichtig vorzugehen. Er holte sie ein, schaute in ihr Gesicht; ihre Miene verriet nichts, ihre Augen waren verhangen. »Also ...«Er fühlte sich genötigt, die Frage offen zu stellen: »Wollen Sie mir Modell sitzen?«
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Ruhig sah sie ihm in die Augen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, tiefer zu sehen - dass sie es zuließ, dass er etwas von der Frau spüren konnte, die sie war, von der Stärke in ihr - sicherlich der Grund hinter ihrer Standhaftigkeit, ihrer Selbstsicherheit, die soviel ausgeprägter war als sonst bei jungen Damen ihres Alters ...
»Wie alt sind Sie?«
Sie blinzelte. »Warum? Spielt das eine Rolle?«
Seine Lippen formten sich bei ihrem leicht belustigten Ton zu einer schmalen Linie. »Ich muss Sie kennenlernen, Sie verstehen; und das Wissen, wie alt Sie sind, hilft mir dabei, eine Vorstellung zu entwickeln, welche Fragen ich stellen muss, was ich noch erfahren muss.«
Sie zögerte; er spürte, dass sie sich zurückzog, vorsichtiger wurde. »Ich bin dreiundzwanzig.« Sie reckte ihr Kinn. »Wie alt sind Sie?«
Er durchschaute das Ablenkungsmanöver, antwortete aber ruhig: »Neunundzwanzig.«
Ihre Brauen hoben sich. »Sie wirken älter.«
Es war schwierig, auf dem hohen Ross zu bleiben, wenn sie so entschlossen war, die Regeln zu ignorieren. »Ich weiß.« Die unterschwellige Eleganz, die er Vane abgeguckt hatte, ließ ihn immer schon reifer erscheinen.
Er fixierte ihren Blick. »Und Sie auch.« Was stimmte.
Sie lächelte flüchtig, ein ehrliches, amüsiertes Lächeln, wenn auch mit einem Anflug von Selbstironie. Es war das erste spontane Lächeln, das er bei ihr sah; und es weckte in ihm sogleich den Wunsch, es häufiger zu sehen.
Sie standen sich einen Augenblick gegenüber, musterten einander, dann sagte er: »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
Sie schaute ihm noch einen Moment länger in die Augen, dann verzogen sich ihre Lippen langsam. Sie wirbelte herum und ging wieder zurück zur Tür in den Salon. »Wenn Sie auch nur halb der Künstler sind, für den Sie sich halten« -sie blickte ihn über ihre Schulter hinweg an und wieder nach vorne, ging weiter - »ja, dann werde ich Ihnen Modell sitzen.« Ihre letzten Worte trug die laue Brise zu ihm: »Papa hat eine gute Wahl getroffen, wie mir scheint.«
Er schaute ihr nach, wie sie sich entfernte, war sich bis ins Mark ihrer kühnen und doch verhohlenen Herausforderung bewusst - und seiner Antwort darauf. Absichtlich richtete er seinen Blick auf ihren entblößten Nacken, ließ ihn über ihren Rücken wandern, vollzog die Linie von den Schultern zur Hüfte nach, bis zu ihren Knöcheln ... dann folgte er ihr.
3
Er verbrachte eine ruhelose Nacht. Schon früh war er wach und auf seinem Balkon, um den Sonnenaufgang über dem Garten zu betrachten.
Und über Jacqueline Tregonning nachzudenken.
Sie war so völlig anders, als er es erwartet hatte. Sie waren sich im Alter näher, als er gedacht hatte, obwohl sie Welten trennten, was die Lebenserfahrung anging. Seine war wesentlich größer. Aber egal; da musste etwas gewesen sein, irgendein Vorfall in ihrem Leben, der für die stählerne Stärke in ihr verantwortlich war, die er in ihr spürte. Es war nicht einfach nur Charakterstärke, sondern eine gereifte innere Kraft, die geprüft worden war und bestanden hatte; sie besaß die innere Stärke eines Menschen, der sich nicht unterkriegen lässt.
Was die Frage nach sich zog: Was hatte sie erlebt?
Was auch immer es war, ob es auch für die Schatten in ihren Augen verantwortlich war? Sie mochte ja selbstsicher
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